Hier wird uns Valerie ihre Geschichte
erzählen.
1.
Familiengründung mit Hindernissen
Es gab eine Zeit, da rettete ich auf
Spazierwegen jede Schnecke vor den Füßen und Fahrrädern meiner Mitmenschen.
Denn jedes noch so kleine Leben ist schützenswert, so meine Überzeugung. Wie
sehr ich dabei in Selbstmitleid versinken konnte: Ausgerechnet ich, die
leidenschaftliche Lebensschützerin, war nach vielen Jahren Kinderwunsch immer
noch ohne Baby.
Nach zwei gescheiterten
Partnerschaften fand ich mit Anfang 30 endlich den für mich genau richtigen
Mann. Auch er wünschte sich eine Familie. Und tatsächlich: Schon ein Jahr
später hielten wir einen positiven Schwangerschaftstest in Händen. Doch die
Schwangerschaft lief von Anfang an nicht gut, die Ärzte waren skeptisch. Wir
recherchierten die Ultraschall-Befunde und stellten uns auf ein behindertes
Baby ein. Kein Gedanke an einen Abbruch. Wir waren uns sicher: Jedes Kind wäre
uns willkommen, wäre für uns ein Geschenk des Lebens, noch so viel kostbarer
als all die Wild- und Haustierchen, die ich bis dahin beschützt und gehütet
hatte.
Doch die Schwangerschaft endete
abrupt, mit einer Fehlgeburt in der 10. Woche. Das war kurz vor unserer Hochzeit
und somit ein besonders schwieriger Zeitpunkt. Vor allem für mich war der
Verlust heftig, denn der Kinderwunsch hatte ja schon so viele Jahre in mir
genagt. Wir legten die Ultraschallbilder und unsere ersten Babysöckchen in eine
Schachtel, schrieben unserem Baby einen Abschiedsbrief und vergruben alles
zusammen unter einer großen alten Eiche.
Mein Mann und ich hofften so sehr,
dass es bald wieder zu einer Empfängnis kommen würde. Das tat es aber aus
irgendwelchen Gründen nicht. Mit jedem Monat, der verstrich, wurde ich
nervöser. Im Jahr nach der Fehlgeburt ließen wir uns untersuchen und bekamen
eine Reihe ungünstiger Befunde. Das größte Problem: Schon mit 33 Jahren hatte
ich kaum noch Eizellen übrig, weshalb uns nur noch wenig Zeit blieb – die biologische
Uhr tickte also bereits sehr, sehr laut. Da krallte sich die Angst, dass ich
vielleicht niemals mein eigenes Baby im Arm halten würde, wie eine eiskalte
Klammer um mich.
In meiner Panik überzeugte ich meinen
Mann, dass wir es möglichst bald mit einer künstlichen Befruchtung versuchen
sollten. Und zwar in Österreich, denn die einheimischen Ärzte räumten uns
aufgrund meiner fast leeren Eierstöcke nur geringe Chancen ein. In Salzburg
klappte es zum Erstaunen aller gleich auf Anhieb. Ich war schwanger! Einer
unserer Zwillinge verschwand zwar leider ganz früh vom Radar. Aber der andere
hatte sich fest eingenistet und wuchs zu einem kräftigen Fötus heran.
Bald kam wieder die Frage auf, ob und
welche Art von pränataler Diagnostik wir diesmal in Anspruch nehmen wollten,
zumal ich nun aus verschiedenen Gründen als Risikoschwangere galt. Schließlich
ließen wir nicht mal die Nackenfalten-Messung durchführen, denn wir waren uns
nach wie vor einig: Auch ein behindertes Kind wäre uns willkommen – zumal ein so
lang ersehntes und hart erkämpftes wie dieses.
Trotzdem machte ich mir immer wieder
Sorgen, dass unser Baby krank oder behindert zur Welt kommen könnte, zum
Beispiel mit Trisomie 21. Ich kannte eine ganze Reihe solcher Menschen, sowohl
privat als auch durch meine frühere therapeutische Tätigkeit. Vielleicht lag
der Gedanke daher so nahe? Mir war klar: Die betroffenen Personen haben
typischerweise mehrere Handicaps auf einmal. Meist haben sie trotzdem eine gute
Lebensqualität. Oft sind es sogar besonders freundliche und zufrieden wirkende
Menschen.
Meine
Gedanken wanderten zurück zu meinen verschiedenen Bekannten mit Down-Syndrom,
unter anderem zu einer Jugendlichen, die ich längere Zeit im Behindertenwerk
betreut hatte. Unter ihren vielfältig beeinträchtigten Mitbewohnern im Heim war
sie wohl eine der Fittesten. Sie konnte sich gut ausdrücken und war stark wie
ein kleiner Bär. Ihre körperliche Kraft nutzte sie allerdings auch, um sich mit
Gewalt körperlich durchzusetzen und immer wieder wegzulaufen. Einmal hat sie
sich und mich in einem verlassenen Gebäude eingesperrt. Für uns als ihre
verantwortlichen Mitmenschen war das alles nicht so einfach. Andererseits
rührte es mich, wie fürsorglich sie sich um einen schwerstbehinderten Jungen
aus ihrer Wohngruppe kümmerte, ihm durch Streicheln und Kitzeln immer wieder
ein Lächeln entlockte. Das war ihre ganz persönliche Gabe. Für mich steht außer
Zweifel: Auch ein Leben mit Trisomie 21 kann sehr lebenswert sein.
Doch trotz
dieser Überzeugung hatte ich Angst, selber ein solches Kind zu bekommen. Ahnte
ich damals schon, dass ich dem auf Dauer nicht gewachsen wäre? Erst nach dem
unauffälligen Feinultraschall in der Mitte meiner Schwangerschaft konnte ich so
langsam daran glauben, dass unser Sohn ohne Behinderung zur Welt kommen würde.
Das tat er dann auch, und kurz vor meinem 35. Geburtstag, nach ganzen zehn
Jahren der Sehnsucht, war ich endlich am Ziel: Ich war Mutter eines gesunden,
leiblichen Wunschkindes geworden. Unser Sohn ist das großartigste Geschenk, das
wir je bekommen haben. Sein Papa und ich empfinden seither tiefe Dankbarkeit,
jeden Tag aufs Neue.
Doch bei aller Verzauberung… Unsere
Freude blieb nicht lange ungetrübt. Denn der Kleine entpuppte sich als
hochempfindliches Schreikind, das viele Monate lang wie am Spieß brüllte –
täglich, stundenlang, völlig untröstlich. Kaum wurde das ganz langsam besser,
war er andauernd krank. Die nachfolgenden Jahre liefen kaum besser, ein Infekt
jagte den anderen, deutlich häufiger als bei anderen Kindern. Selbst im Sommer
haben wir seither keine wirkliche Pause davon.
Dazu kommt: Unser Sohn schlief von
Anfang an sehr wenig, genauer gesagt: extrem wenig. Und wenn er dann endlich mal
zur Ruhe kam, war sein Schlaf hoch störanfällig. Vor allem bei mir staute sich
dadurch eine massive Erschöpfung an. Irgendwann waren wir so fertig, dass wir
mit unserem Einjährigen Rat in der Schlafambulanz einer renommierten
Kinderklinik suchten. Wirkliche Hilfe bekamen wir dort nicht. Stattdessen
sollten wir Schlafprotokolle führen und fanden heraus: Als Baby und Kleinkind
war unser Sohn unfassbare 100 Stunden pro Woche wach. Das bedeutet: etwa 30-40
Stunden mehr als die allermeisten seiner Altersgenossen. Ihn zu betreuen und zu
beaufsichtigen war im Vergleich also wie ein Vollzeitjob obendrauf. Immer
wieder war ich dermaßen erschöpft, dass ich am ganzen Körper zitterte.
Großeltern oder andere Helfer in der
Nähe hatten wir nicht. Wir waren unmittelbar vor der Entbindung in diese Gegend
gezogen und mussten uns erst ein neues Netzwerk aufbauen, was nun mal nicht von
heute auf morgen geht. Als unser Sohn anderthalb war, suchten wir daher Entlastung
in einer privaten Halbtags-Krippe, die mir und meinem Mann sehr gut gefiel –
klein, ruhig und gemütlich. Unser Sohn aber wehrte sich gegen die dortige
Betreuung buchstäblich mit Händen und Füßen. Nach ein paar tränenreichen Wochen
riet uns die Leiterin zum Abbrechen der Eingewöhnung. Also meldeten wir unser
Kind wieder ab. Wir dachten, dass eine Tagesmutter vielleicht besser
funktionieren würde, fanden aber keine, die auch nur annähernd gepasst hätte.
Man wächst mit seinen Aufgaben, so
sagt man doch? Für mich scheint das nicht zu gelten, denn meine Kräfte
schrumpften im Laufe der Zeit immer mehr. Mein Körper streikte immer häufiger,
reagierte mit ständigen, nicht enden wollenden Infekten. Seit einem
Fahrrad-Unfall quälte mich zudem ein chronisches Kopfweh, an durchschnittlich
fünf Tagen pro Woche, seit Jahren schon. Außerdem habe ich mit komplizierten
Autoimmun-, Hormon- und Augen-Problemen zu kämpfen. Mit wiederkehrenden
Depressionen und Ängsten ebenfalls. Dazu Gelenkschmerzen, bei jedem Wickeln, Hochnehmen
und Tragen. Schließlich bekam ich vom Rheumatologen eine Diagnose:
Fibromyalgie, im Volksmund auch Weichteilrheuma genannt. Eine Krankheit, für
die es bisher kaum wirksame Behandlungsmöglichkeiten gibt.
Dabei wünschten mein Mann und ich uns
eigentlich so sehr ein zweites Kind… Nochmal ein Neugeborenes im Arm halten,
staunend das Wunder des Lebens begleiten... Doch der Grad der Belastung als
Familie, gepaart mit unseren Diagnosen als Kinderwunsch-Patienten, ließ es
schwierig bis unmöglich erscheinen, ein weiteres Baby zu bekommen. Es drängte
sich uns immer mehr der Gedanke auf, dass es wahrscheinlich besser wäre, es bei
einem Kind zu belassen.
Das war unsere Lage, als unser Sohn
zwei Jahre alt war. Und ich mit 37 Jahren noch einmal schwanger wurde – einfach
so. Nach unserer Vorgeschichte als ICSI-Patienten hat uns diese Schwangerschaft
ziemlich überrascht. Mein Mann und ich hatten ja beide ungünstige
Diagnosen und daher eine hochaufwendige künstliche Befruchtung nötig gehabt, um
endlich Eltern zu werden! Und so hatten wir wohl nicht mehr daran geglaubt,
auch auf natürlichem Wege ein Kind zeugen zu können. Zumal ich laut den
Befunden ja schon längst in den vorzeitigen Wechseljahren war.
Doch trotz aller Überrumpelung kam
sofort, schon am Morgen des positiven Tests, Zärtlichkeit für das kleine Wesen
in mir auf. Einer meiner allerersten Gedanken an jenem Tag: Würde dem Kindchen
in seinem ersten Winter die rote Babyjacke seines großen Bruders passen? Ja,
weich und warm, und rot wie die Liebe… Das Kleidungsstück wurde zu einem Symbol
für die Muttergefühle, die von Anfang an in mir aufkeimten.
Gleichzeitig überkam uns große Angst:
Wie kann eine gesundheitlich so eingeschränkte Mama den Alltag mit gleich zwei
kleinen Kindern stemmen? Fieberhaft suchten wir nach einer Lösung. Mehrere
Au-pairs nacheinander nehmen, um irgendwie die schlafarmen ersten Jahre zu
überbrücken? Oder nur noch Teilzeit-Arbeit für meinen Mann, mit allen
finanziellen Einschränkungen, die das auf Dauer für uns bedeutet hätte? Für mich
war an eine Berufstätigkeit ja nicht einmal zu denken. Da gab es nichts, was
man noch hätte streichen können.
Solche Gedanken wälzten wir hin und
her, immer wieder, und alles noch unter der Annahme, dass es ja nach den ersten
Jahren deutlich leichter wird. Zumindest dann, wenn ein Baby gesund zur Welt
kommt. Und wenn nicht?!
In der ersten und zweiten
Schwangerschaft hatten wir bewusst auf alle Trisomie-Checks verzichtet. Und nun
plötzlich schien es ein Gebot der Vernunft, zumindest einen der neuen DNA-Bluttests
in Auftrag zu geben, auch NIPT oder NIPD (Nicht-invasive pränatale
Diagnostik) genannt. Mit einem solchen Test können sehr früh und mit großer
Zuverlässigkeit, aber ohne das Fehlgeburts-Risiko der invasiven Methoden, die
häufigsten Chromosomen-Fehler eines Ungeborenen aufgespürt werden.
Schließlich vereinbarten wir einen
Beratungstermin, am Institut für Humangenetik einer großen Klinik. Es war
Anfang Dezember und ich befand mich in der 12. Schwangerschaftswoche. Bei dem
Gespräch fragte der Arzt, wie mein Mann und ich im Falle einer Trisomie 21
entscheiden würden. Tja, was würden wir tun, wenn unser Kind das Down-Syndrom
hätte? Da mein aktuelles Altersrisiko für die drei häufigsten Trisomien
zusammengenommen nicht mal 1 Prozent betrug, sagte ich: Mein Mann und ich
setzen jetzt erstmal alles auf die 99 Prozent Hoffnung, dass unser Kind
genetisch unauffällig ist. Wenn nicht, machen wir uns dann Gedanken, wenn der
genaue Befund vorliegt. Zumal der DNA-Bluttest ja nicht nur nach den häufigsten
Trisomien, sondern auch nach vergleichsweise harmlosen Fehlverteilungen der
Geschlechtschromosomen sucht.
Aus der Erfahrung heraus glaube ich,
dass dieses ergebnisoffene Abwarten – wenn man davon überzeugt ist, einen
Trisomie-Test machen zu wollen – die einzig realistische Haltung ist. Weil man
im voraus nämlich gar nicht wissen
kann, was man so alles denken und fühlen wird, wenn einen tatsächlich eine
Diagnose erwischt. So manche werdende Mutter wird dann sehr von sich selbst
überrascht. Es gibt die vermeintlich Harten, die immer von sich sagten, dass
für sie ein behindertes Kind überhaupt nicht infrage käme. Und die dennoch beim
Anblick ihres Babys im Ultraschall ganz klar und unverrückbar wissen: Niemals
könnte ich mein Kind töten lassen!
Auf der anderen Seite gibt es aber
auch diejenigen, die sich bis dahin für strikte Abtreibungsgegnerinnen hielten.
Bis sie mit dem Ernstfall konfrontiert werden, der nicht mehr reine Theorie
ist. Der nicht mehr die anderen, sondern einen selbst betrifft. Der droht, das eigene, mühsam
zusammengehaltene Familienleben zu sprengen. Und plötzlich ist der Zweifel da:
Ist es wirklich richtig, dieses Kind auszutragen?
Ein kleiner Piekser in meiner
Armbeuge, eine scheinbar ganz normale Blutabnahme. Wir hatten uns für den
amerikanischen Anbieter des Trisomie-Tests entschieden. Die Kosten wurden nach
kurzer Anfrage von meiner gesetzlichen Krankenversicherung übernommen. Die
Probe sollte in die USA geschickt werden, wo ein Labor in meinem Blut nach
DNA-Schnipseln unseres Babys suchen würde. Spezielle Computer sortieren dabei
das Erbgut der Mutter und das des Ungeborenen auseinander und ordnen die Gene
denjenigen Chromosomen zu, auf denen sie normalerweise liegen. Findet sich eine
Reihe kindlicher Gene dreifach statt zweifach, dann hat der Fötus eine
Trisomie.
Nun galt es also zu warten. In etwa
zehn Tagen, so der Humangenetiker, sollte das Ergebnis vorliegen.
Der Chromosomen-Test wurde zum Orakel,
das über das Schicksal unseres Babys entscheiden sollte.
Nächsten Mittwoch in Teil 2: Wie Valerie undihr Mann von der Behinderung ihres Ungeborenen erfahren. Und die wohlschwierigste Entscheidung ihres Lebens treffen müssen.
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