Valeries Geschichte geht weiter
Die ersten Teile findet ihr unter:
4.
Sein letzter Lebenstag
Sieben endlose Tage und
Nächte lang haben wir um den am wenigsten falschen Weg gerungen. Trotz aller
Trauer und Schuldgefühle war es schließlich eine eindeutige Entscheidung. Nein,
wir können niemandem vorwerfen, uns zum Schwangerschaftsabbruch gedrängt oder
überredet zu haben. Die Last dieser Verantwortung müssen wir als Eltern ganz
alleine tragen. Vor dem Gesetz sogar eigentlich nur ich als Mutter. Die
Unterschrift, die mein Mann in der Klinik neben die meine setzte, war ein rein
symbolischer Akt. Ich habe ihn darum gebeten. Die Einsamkeit der Entscheidung
blieb dennoch unendlich groß.
Mein Mann musste am Morgen
jenes Tages zur Arbeit, ein nicht verschiebbares Meeting, fünfzig Personen
beteiligt, er der Leiter des Ganzen. Er würde daher erst kurz vor unserem
Termin nachkommen. Es war also klar, dass ich zur Klinik ganz alleine würde
fahren müssen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Seit Tagen rebellierte mein
Körper gegen die irrsinnig hohe Anspannung durch Würgeanfälle. Ich hatte Angst,
dass mein Magen sich ausgerechnet in Bus oder Bahn entleeren könnte. Das Paar
aus der Wohnung unten, seit kurzem selber Eltern eines Babys, klopfte abends
noch spät an unsere Tür. Der Nachbar sagte: „Du fährst uns da morgen bitte
nicht alleine hin.“ Eine lange, stumme Umarmung, ich wurde gehalten. Die Frau
brachte mich am nächsten Vormittag mit dem Auto zur Klinik. Am Eingang wartete
schon mein Mann. Ich war nicht allein.
Der Arzt war ein Mann mit
groben Gesichtszügen. Ich hoffte für ihn, dass diese der Spiegel eines nicht zu
sensiblen Gemüts seien. Denn wie sonst kann ein Mensch diese fürchterliche
Arbeit aushalten? Das Aufklärungsgespräch lief ruhig und sachlich. Wie würde
der Abbruch ablaufen? Ich hatte mich gegen eine Geburtseinleitung entschieden.
Unvorstellbar, bei einer solchen das langsame Sterben meines Babys bewusst
miterleben zu müssen. Die Wahl hatte ich nur deshalb, weil der neue
Trisomie-Test bereits im ersten Schwangerschaftsdrittel durchführbar ist und
wir das Ergebnis entsprechend früh bekommen hatten. Ich war jetzt bei dreizehn
Wochen und sechs Tagen p.m.,
und zu diesem Zeitpunkt (ich lag damit sogar noch knapp innerhalb der
Fristenlösung) kann man einen Fötus noch unter Vollnarkose absaugen. Bald
darauf wäre mein Baby zu groß dafür gewesen, dann hätte ich es unter stunden-
bis tagelangen Wehen tot zur Welt bringen müssen. Und wir hätten den Blick
anschließend nicht abwenden können – wir hätten unser Kind gesehen. Ich
glaube, dass uns der Abschied auf diese Weise noch sehr viel schwerer gefallen
wäre. Nein, besser kein Bild im Kopf zurückbehalten. Lieber kurzen Prozess
machen. Um aller Beteiligten willen.
Wir wollten vom Arzt wissen,
auf welche Weise unser Kind nun also sterben würde. Und wie lange das ungefähr
dauern könnte. Die Antwort: Durch das Absaugen wird der Körper des Fötus
zerfetzt. Er stirbt innerhalb von zehn bis fünfzehn Sekunden. Manchmal ist allerdings
der Kopf schon so groß, dass man ihn erst wie eine Nuss knacken muss, bevor man
auch ihn durch den Muttermund absaugen kann.
Alles in mir krampfte sich
zusammen.
Würde das Sterben unserem
Baby Schmerzen bereiten? Diese Frage belastete uns sehr, ich habe sie daher
immer wieder recherchiert. Die Neurowissenschaften zeigen sich einig: In den
ersten Monaten der Schwangerschaft sind die Bewegungen und Reaktionen eines
Fötus – auch wenn sie schon recht gezielt wirken mögen – nichts anderes als unwillkürliche
Reflexe. Eine Schmerzempfindung wird anatomisch frühestens irgendwann ab der
24. Schwangerschaftswoche möglich. Denn erst zu diesem Zeitpunkt bildet sich im
Laufe der Wochen und Monate die Großhirnrinde, wo der Mensch sein Bewusstsein entwickelt.
Vorher ist ein Fötus rein physiologisch nicht dazu imstande, irgendetwas zu
fühlen oder auch nur einen einzigen Gedanken zu denken.
Bis heute klammern wir uns an
diesen Trost.
Sind Sie sicher, dass Sie die
Schwangerschaft abbrechen möchten? Im OP wurde ich noch ein letztes Mal
gefragt. Der Arzt machte noch einen Ultraschall. Inständig hoffte ich, dass das
Herz meines Babys inzwischen von selber aufgehört hatte zu schlagen. Das wäre
eine Gnade gewesen. Auch noch nach dem ersten Schwangerschaftsdrittel stirbt
bis zum Geburtstermin ungefähr jeder dritte Fötus mit Down-Syndrom von selber.
Meist diejenigen mit größeren Organ-Fehlbildungen. Aber mein Kind lebte. Alles
normal, sagte der Arzt. Kein Entrinnen vor der erdrückenden Schwere der
Entscheidung.
Am Abend zuvor hatte ich eine
Rundmail an die Menschen aus unserem näherem Umfeld geschickt: Bitte zündet
morgen Mittag eine Kerze für unser armes Kindchen an, das da völlig unschuldig
sein Leben lassen muss.
Ein trüber Tag Mitte
Dezember. Eine Viertelstunde bewusstlos im OP. Danach ein weißes Bett, in einem
Zimmer für uns allein. Allein mit einem leeren Bauch. Die Krankenschwestern
schwebten in leiser Hilfsbereitschaft um uns herum. Ich nahm die Welt aus der
Ferne wie durch einen Schleier wahr.
Erst als alles vorbei war,
haben wir das Geschlecht unseres Kindes erfahren: Ein Junge. Der kleine Bruder
unseres Sohnes. Wir gaben ihm den Namen LINUS. Das bedeutet im Griechischen:
Der Bedauernswerte, der Betrauerte.
Er wurde in ein Sammelgrab
für tot geborene Kinder gelegt. Ein steinerner Engel wacht seither über ihm.
Ein paar Tage später war
Weihnachten. Zumindest für die anderen. Nicht für uns.
Nächsten Mittwoch im fünften
Teil: Dreieinhalb Jahre später. Wie mag es Valerie und ihrer Familie heutegehen?
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Ich bin immer wieder fassungslos. Kann das absolut nicht nach empfinden. Freunde haben einen Sohn mit Downsyndrom bekommen. Ein glücklicher, zufriedener kleiner Kerl. Natürlich alles etwas anders und ganz sicher auch anstrengender für immer. Aber ein glückliches Kind was lebt und bereichert! Ich habe selbst ein Tennie betreut mit Downsyndrom. Mit schwereren Körperlichen und geistigen Einschränkungen - aber auch hier: ein glücklicher junger Mann der die Familie bereicherte!
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