Mittwoch, 3. Oktober 2018

Gastautorin Kathrin: Vom Wunschkind zum Schattenkind


In meinem Beitrag zum Thema Schattenkinder habe ich ja dazu aufgerufen, dass die Geschwister nun mal selbst zu Wort kommen.
Wenn ich von allen, die gerne was erzählen möchten einen Text bekomme, dann wird das hier eine wirklich wertvolle Serie mit vielen unterschiedlichen Stimmen zu diesem Thema.
Ich freue mich selbst darauf.



Als erstes heute also Kathrins Geschichte:


Ich bin ein absolutes Wunschkind, es hat 7 Jahre gedauert, mich zu zeugen und entsprechend wurde ich nach meiner Geburt von meinen Eltern behandelt. 
Bis ich 3 Jahre alt war, war ich die Prinzessin und dann wurde meine Mutter wieder schwanger. 


Ich habe mich riesig auf mein Geschwisterchen gefreut und auch auf das neue Haus, in das wir nun zogen. Bis jetzt hatten wir in einer 3 Zimmer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus gewohnt und in Zukunft wäre mein neues zu Hause ein alter Bauernhof mit riesigem Grundstück und den nächsten Nachbarn und der nächsten befahrenen Straße erst in 500 m Entfernung – ein Traum für einen fantasievollen Wildfang, wie ich einer war. 

Genau während des Umzugs kam mein Bruder zur Welt, doch da war keine Freude bei meinen Eltern, nur Sorge. Unmittelbar nach seiner Geburt, während derer ich im Schwesternzimmer von der Nachtschwester mit Süßigkeiten gefüttert wurde, flog man ihn mit dem Helikopter nach Hannover in die Medizinische Hochschule, was etwa 2 Autostunden von uns entfernt lag. 
Dort verbrachte mein Bruder die nächsten Jahre viel Zeit wegen unzähliger Operationen und immer dabei, meine Mutter. 

Für mich war es, als hätte ich durch die Geburt meines Bruders meine Mutter verloren, denn selbst wenn sie nicht in der Klinik waren, war meine Mutter berufstätig in 2 Schichten, so dass ich sie manchmal gar nicht sah, mein Vater war Fernfahrer und auch viel weg. Ich verbrachte meine Kindheit mit verschiedenen Kindermädchen oder bei Bekannten meiner Eltern, später auch mit meiner Pflegeschwester, die mich in gewisser Weise aufgezogen hat. 

Mein Bruder war behindert, damit musste ich mich früh arrangieren und auch damit, dass er genau deshalb immer bevorzugt behandelt wurde. Während ich gezwungen war, früh selbstständig und selbverantwortlich zu handeln, musste ich ebenso regelmäßig Verantwortung für meinen Bruder übernehmen. Wenn er Blödsinn machte, war es meine Schuld, immerhin war ich ja „die Große“, wenn er sich verletzte ebenfalls, selbst wenn ich mich gar nicht in seiner Nähe aufgehalten hatte. Ich hätte ja auf ihn aufpassen können. 

Ich liebte meinen Bruder, aber genauso hasste ich ihn in manchem Momenten. 


Mein Bruder ist NICHT geistig behindert und heute kann ich sagen, er ist wahrscheinlich sogar überdurchschnittlich intelligent, aber genau das hat es um so problematischer für mich gemacht. 

Sehr schnell hat er gelernt, seine Behinderung als Ausrede zu nutzen oder mir den schwarzen Peter zuzuschieben. Andererseits beneidete er mich darum, was ich alles konnte und durfte, während meine Mutter ihn, aus purer Angst, in seiner Selbstständigkeit einschränkte. 
Das zeigte sich zum Beispiel beim Schulweg, während ich bereits in der ersten Klasse allein mit dem Rad an der Hauptstraße entlang zur Schule fahren MUSSTE, durfte er das in der 4. Klasse noch immer nicht, obwohl er wollte und problemlos gekonnt hätte.

Mamas Sorge, es könne ihrem geliebten Baby etwas passieren, war einfach zu groß. 

Oder ein anderes Beispiel, was mir als Kind vollkommen unverständlich war, ist die Tatsache, dass ich als regelmäßig allein mit den Hunden „auf Wanderschaft“ ging und auch nicht selten dabei in den Bach fiel, das war nie für irgendjemanden problematisch, doch als mein Bruder mich begleitete und ich ihn pitschnass nach Hause brachte, rastete meine Mutter vollkommen aus, während mein Vater nur sagte „jeder Junge muss mal in den Bach fallen, das gehört dazu“. Ich versteh das Problem an der Situation tatsächlich bis heute nicht, denn mein Bruder war auch nie besonders anfällig für Krankheiten oder so. 

Auf der einen Seite war also meine Mutter, die meinen Bruder überbehütete und ihn damit zu dem unselbstständigen Wesen erzogen hat, das er heute, mit 30 noch immer ist. Nicht, weil er nicht anders kann, sondern, weil er nicht anders will, denn selbst die Möglichkeit, einen Hauptpunkt seiner Behinderung inzwischen medizinisch beheben lassen zu können, lehnt er von vornherein ab, weil er dann ja „bei Null beginnen müsste“. Tatsächlich hätte er dann einfach keine Ausrede mehr, den ganzen Tag in seinem Zimmer vor dem PC zu sitzen, sich bedienen zu lassen und... na ja, lassen wir das, ich will ihn ja auch nicht vollkommen bloßstellen. 

Auf der anderen Seite war da mein Vater, der gefühlt täglich brüllte, egal ob mit uns oder meiner Mutter und mir regelmäßig erklärte, dass ich allein durch meine Geburt schuld daran bin, dass die Ehe meiner Eltern kaputt sei, da Mama sich ab da nur noch für mich interessiert hätte. Komisch, im Grunde fühlte ich mich in Bezug auf die Geburt meines Bruders ganz genau so. 

Was ich rückblickend und gerade jetzt, wo ich selbst Mutter eines behinderten Kindes bin, noch weitaus schlimmer finde, ist dass er keine Gelegenheit verstreichen ließ, sich bei z.T. wildfremden Leuten abfällig über meinen Bruder zu äußern, auf höchst geschmacklose Weise und ohne Hemmungen, wenn ich kleines Mädchen daneben stand und alles mitanhören musste. 

Je älter ich wurde, desto klarer wurde mir, dass mein Vater meinen Bruder niemals bekommen hätte, hätte er die Wahl gehabt, deshalb war mir auch klar, was er nach der Down Syndrom Diagnose in meiner Schwangerschaft gedacht hat, ausgesprochen hat er es aber erst, als ich nicht mehr damit rechnete, kurz vor der Geburt, so dass es mich trotzdem aus dem Nichts traf. 

Das war nicht untypisch, meine erste Tochter betitelte er ja auch als Klinikmüll, den man nicht bestatten müsse, weil sie ja noch gar kein Mensch sei. Vielleicht wird an dieser Stelle deutlich, warum ich das letzte Jahr vor seinem Tod keinen Kontakt mehr zu ihm hatte... 

Zurück zu mir und meinem Bruder. 
Als Kinder und auch als Jugendliche hatten wir ein sehr unausgeglichenes Verhältnis, einerseits ließ ich ihn absichtlich die Terrasse runterfallen, so dass er ein Loch im Kopf hatte und wir bewarfen uns mit Möbeln und sogar Messern, andererseits hatte ich aber auch das Gefühl ihn beschützen zu müssen, wenn er mal wieder gehänselt wurde und konnte da auch echt zur Furie werden. 

Wir waren schwierige Kinder, beide, ganz ohne Frage. 
Aus heutiger Sicht hätte ich nicht mit meiner Mutter tauschen wollen, trotzdem sitzt diese ungerechte Behandlung einfach so tief. Bis heute fühlt es sich fast unangenehm an, meine Mutter auch nur zu umarmen, dabei haben wir inzwischen ein recht gutes Verhältnis (solange es nicht um meinen Bruder geht), doch das ist einfach so absolut unnatürlich. 
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass meine Eltern mal mit mir gekuschelt haben, sehr wohl aber an das innige Verhältnis meiner Mutter zu meinem Bruder und auch heute noch, wenn es darauf ankommt, ergreift sie Partei für ihn, egal welchen Mist er macht. 
Wie erwähnt, lebt er noch bei ihr, er kommt eigentlich nie aus seinem Zimmer. Nicht einmal an Weihnachten oder ihrem Geburtstag hält er das für nötig. Mama sucht immer nach Ausreden für ihn. Er beklagt sich, dass wir laut sind,wenn wir bei Mama schlafen und ihn beim Computer Spielen, bzw. beim Streamen stören und was macht Mama? Richtig, sie legt uns nahe, nicht mehr über Nacht bei ihr zu bleiben und selbst bei normalen Besuchen ermahnt sie, leise zu sein und ihn nicht zu stören, selbst sein Essen muss er sich meist nicht selbst aus der Küche holen, das bringt sie ihm. 
Wie im schlechten Film, oder? 

Nichtmal zu Zoes Einschulung hat er sich bequemt. Wie unangenehm war mir das, als ich von einem meiner Gäste angesprochen wurde, ob mein Bruder gar nicht da sei, aber wenn ich gekränkt bin, wird das von meiner Mutter noch heute immer lapidar abgetan, während sie für alles, was meinen Bruder betrifft Verständnis, Erklärungen und Ausreden parat hat 

Das ist hart, doch irgendwie habe ich es aufgegeben, das ändern zu wollen. Ein herzliches Verhältnis werden meine Mutter und ich nie haben, nicht wie andere Töchter mit ihren Müttern, doch wir haben nach dem Tod meines Vaters einen Weg gefunden, mit dem wir leben können und ihre Enkel lieben sie und sie liebt ihre Enkel, das ist mir inzwischen am wichtigsten.



Autorin: Kathrin Grunert
Bilder: alle privat (danke für die Nutzungserlaubnis)

Kathrin veröffentlicht auch auf der facebook-Seite: Zoe - irgendwie anders und doch so normal


















Da läuft es mir gerade kalt über den Rücken, danke, dass du deine Geschichte so offen und ehrlich mit uns geteilt hast. Das zeigt mir wieder, dass wir Eltern wirklich an uns arbeiten müssen, denn die Zukunft unserer Kinder liegt in unserer Hand.
Manchmal messen wir Eltern sicher mit zweierlei Maß, doch das ist einfach nie gut, wie diese Geschichte zeigt und zwar für keine der Seiten.







4 Kommentare:

  1. Das ist ja echt ne harte Geschichte... ich selbst bin noch keine Mutter, Nachwuchs ist aber grade unterwegs :D
    Aber ich hab zu meinen Eltern ein so tolles Verhältnis und auch zu meiner Schwester, dass ich mir manchmal gar nicht vorstellen kann, was Eltern ihren Kindern antun!
    Meine Schwester ist 6 Jahre jünger als ich und klar, als Nesthäkchen wurde sie in meinen Augen vielleicht öfter mal bevorzugt oder verwöhnt, aber es war alles im Rahmen. Andersrum war sie immer neidisch, dass ich immer schon alles alleine durfte. Aber insgesamt war es zu 90% der Zeit immer harmonisch.
    Daher finde ich es sooo schlimm, wenn jemand diese tolle Möglichkeit der Geschwisterbeziehung verpasst :( und Eltern irgendwie „übersehen“, dass sie 2 Kinder haben...

    Ich finde es richtig stark, wie du mit der Situation umgehst. Vielleicht solltest du noch mal ein offenes und ehrliches Gespräch (ohne Vorwürfe) mit deinem Bruder führen? Dass seine Nichten und Neffen ihn ja auch kennen lernen wollen? Vielleicht braucht er mal neue Anstöße von außen...

    Ich wünsche euch auf jeden Fall alles, alles Gute für die Zukunft :)

    Ganz liebe Grüße,
    EsistJuli

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  2. Das kommt mir unendlich bekannt vor.Nur ist es bei mir meine Schwester und die ist 9 Jahre jünger.Aber auch sie lebt mit 27 unnötiger aber bequemer weiße hinter ihrer Behinderung versteckt bei unserer Mutter.
    Sie hat es zu meiner Hochzeit auch nicht für nötig gehalten raus zu kommen...
    Ich kann dich total verstehen auch ich werde nie ein so inniges Verhältnis zu meiner Mutter haben.
    Fühl dich gedrückt und verstanden
    Liebe Grüße Caro

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  3. Vielen Dank für den tollen Beitrag. Ich kenne das Gefühl absolut und fand es schön zu lesen, dass es auch andere mit einer ähnlichen Erfahrung gibt. Meine jüngere Schwester hat Down Syndrom und von meiner Mutter viel mehr Zeit, Zuneigung und Aufmerksamkeit bekommen als ich. Ich verstehe mich super mit meiner Schwester und bin gleichzeitig geprägt bis heute. Umarmungen und tiefe Gespräche mit meiner Mutter fühlen sich immer noch etwas seltsam an, auch wenn sich meine Mutter bemüht, mir heute mehr Wichtigkeit zu geben. Es war für sie damals sicher eine ganz schwierige Zeit ...

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    1. Danke für deinen Kommentar, das ist total wertvoll, auch für andere Geschwister

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