Mittwoch, 24. Oktober 2018

Gastbeitrag: Schattenkind durch Pflegekinder?


Heute bleibt die Identität meines Gastautoren mein Geheimnis, denn heute soll es um Pflegekinder gehen und hier muss man ganz besonders darauf achten, keine Identitäten Preis zu geben.
Ich freue mich, dass wir nun auch diese Variante hören, wenn die Geschwister mit Behinderung keine leiblichen Geschwister sind, wie fühlt man sich dann?
Ein weiterer sehr spannender Beitrag zu der Miniserie Schattenkinder



Hallo ihr Lieben, die sich für unser Leben als Geschwister von Kindern mit Behinderungen interessieren.

Da ich weitestgehend unerkannt bleiben möchte und muss, werden meine Beschreibungen eher vage bleiben.
Ich hoffe das ist in Ordnung für euch.

Das wichtigste ist, dass ich eins von vier Kindern bin, im pädagogischen Bereich studiere und arbeite und zwei meiner Geschwister eine Behinderung haben.



Als ich noch ein paar deutliche Jahre jünger war, haben meine Eltern noch ein Kind bekommen, als
Anschluss auf mich und mein älteres Geschwisterkind. Kind 3 ist aber kein leibliches Kind meiner Eltern, sondern ein Pflegekind, das zur Dauerpflege bei uns lebt, in die Familie integriert ist und ebenso Mitglied ist wie jedes leibliche Kind.

K3 kam zu uns als Kleinkind, das ganz normal schien, bis auf kleine Entwicklungsverzögerungen, die sich schnell wieder wettmachen ließen. Doch nach einiger Zeit fiel uns auf, dass es manche Dinge nicht aufholte.

In der Schule wurde die Distanz zu den anderen Kindern größer, 
sozial wie von der Lernentwicklung.
Nach einigen Tests, Fehldiagnosen und pipapo kam die Diagnose einer geistigen Behinderung auf, und bald auch der Wechsel auf eine Förderschule.
In dieser Zeit stand ich niemals im „Schatten“ meines Geschwisters. Wir haben uns allesamt, als ganze Familie, Sorgen um K3 gemacht. Wieso er nicht aufholte, sich emotional nicht verständigen konnte usw.

Ich war als ältere Schwester oft verzweifelt - 



warum hörte mein Geschwister nicht auf mich? Wieso hatte es keine Freunde? Wieso entschuldigte es sich nicht, sah keine Fehler ein, und konnte keine Regen einhalten?
In dieser Zeit waren meine Eltern aber auch stark bei mir. Sie halfen mir, Umgangsformen mit K3 zu finden, in denen beide von uns entspannt blieben, Wege zu finden, in denen wir kommunizieren konnten.
Ich war zu der Zeit in die Pubertät; die Umgewöhnung fiel mir schwer. Ich denke jedoch, dass das nicht an der Behinderung spezifisch lag, sondern an dem Konfliktpotential, dass ein behindertes Geschwister bergen kann. Genauso hatte ich oft starke Probleme mit meinem älteren Geschwisterkind 1, als es in der Pubertät war. Und K1 ist „gesund“.

Als wir dann die Diagnose für K3 erhielten, haben wir uns sehr auf ihn anpassen können und der Alltag ist entspannter geworden. Die Anpassung war vielleicht nervig zwischendurch, aber wir haben unser Stresslevel erheblich gesenkt. Das heißt nicht, dass K3 alles hinterhergetragen bekommt - nur finden wir nun deutlich mehr Kompromisse, um das Familienleben zu erleichtern.

Ein paar Jahre später folgte dann in Absprache mit der kompletten Familie - ich wohnte noch zu Hause - K4, ein Pflegekind mit der gleichen Diagnose wie K3. Ich freute mich unglaublich auf mein neues Geschwisterkind. Viele Leute, die das Konzept Pflegefamilie nicht verstehen, können nicht nachvollziehen, wie man ein „fremdes“ Kind von heute auf morgen so bedingungslos lieben kann.
Dadurch, dass wir alle nun einige Jahre mit K3 und seiner Diagnose verbracht haben, können wir entspannt mit K4 auf die Zukunft blicken und individueller fördern.

Doch genug über meine Geschwister: 

Was ist mit mir als „Schattenkind“?


Ich kann hier nur über mich sprechen, nicht für K1, das das Ganze vielleicht komplett anders betrachtet.
Aber über die letzten Jahre reflektierend, kann ich sehr wohl sagen, dass ich kein Schattenkind im negativen Sinne bin. Vielleicht habe ich mal weniger Aufmerksamkeit bekommen, als ich mir gewünscht habe. Aber sollte sich nicht jedes Kind im Heranwachsen daran gewöhnen, nicht immer die Nummer 1 zu sein? Ich kam damit sehr gut klar. Ich wurde nicht vernachlässigt, nur musste ich vielleicht mal länger drauf warten, mein Essen auf den Teller zu bekommen. Das liegt auch einfach an der Anzahl meiner Geschwister.

Zudem bin ich unglaublich an meinen Geschwistern gewachsen. Ich versuche mich immer für Menschen mit Behinderungen stark zu machen. Ich treffe mich mit Leuten, um Aufmerksamkeit für verschiedene Behinderungen und die Einschränkungen, die sie mit sich ziehen, zu erregen. Ich bin Betreuer für Menschen mit Behinderungen. Ich studiere in einem Bereich, in dem ich immer auf eine sonderpädagogische Option zurückgreifen kann. Ich will mir nicht selbst auf die Schulter klopfen, aber ich denke, dass meine Geschwister aus mir einen offeneren Menschen gemacht haben, der aufmerksam gegenüber seiner Umwelt ist und vielleicht auch ein bisschen „abgehärtet“ ist. Ich denke, dass Erziehungsformen wie attachment parenting und bedürfnisorientiert unglaublich wichtig sind, dass Eltern den Bedürfnissen ihrer Kinder nachkommen sollen. Aber ein bisschen Rücksicht lässt jeden Menschen wachsen. Rücksicht auf Behinderungen, oder vielleicht nur darauf, dass die Geschwister keinen Brokkoli mögen, macht einen stark und offen für Kompromisse. Und wer Kompromisse schließt, wird auch selbst oft gewinnen. Ob es dann Brokkoli in drei Gängen am Geburtstag gibt oder man fürs Leben lernt, weil man weiß, wie man mit geistig behinderten Kindern umzugehen hat. Und ich wünsche mir für meine zukünftigen Kinder und Pflegekinder, dass sie genau lernen, intuitiv und rücksichtsvoll zu sein.

Ich hoffe, ich habe mich verständlich ausgedrückt für jeden: ich denke nicht, dass eine Behinderung Eltern die Entschuldigung oder Erlaubnis gibt, ihre Kinder zu vernachlässigen. Ich sehe eine Behinderung mehr als Aufforderung, Kindern Rücksicht und Einverständnis beizubringen und das auch auf Seiten der behinderten Geschwister.

Das ist vielleicht nicht für jedes behinderte Kind möglich, aber Eltern kennen ihre Kinder normalerweise, und wissen wie viel sie von ihnen verlangen können. Und meine Eltern verlangen von mir, Rücksicht zu zeigen, wie sie das auch von meinen Geschwistern verlangen. Und von sich selbst.

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