Mittwoch, 17. Oktober 2018

Gastautorin Steffi: Wenn das behinderte Kind zum Schattenkind wird...


Oft werden Geschwister von behinderten Kindern bedauert. Es gibt den Begriff "Schattenkinder" und nicht selten glaubt man ihre Kindheit und Jugend sei weniger glücklich. Ich glaube es war an der Zeit, dass diese Geschwister, heute Erwachsen, auch zu Wort kommen und ihre Geschichten erzählen. Bisher zeigt die Miniserie Schattenkinder, dass es wie immer gar nicht so einfach ist mit der Beurteilung von Familiensituationen von außen. Es liegt immer daran, was die Menschen aus dem machen, was das Schicksal ihnen als Karten zuspielt. Eltern sind ganz oft der Schlüssel, denn am Ende sind auch Eltern nur Menschen und Menschen machen Fehler.

Vielleicht helfen ja die Berichte von Geschwistern eigene, eingefahrene Wege zu verlassen und es anders zu versuchen. Heute erzählt Steffi, selbst Mutter einer Tochter mit Down Syndrom

Wenn das behinderte Kind zum Schattenkind wird


Februar 1968, ein Junge wird geboren.
Mein ältester Bruder - von Anfang an ein schwieriges Kind.
Im Laufe der Zeit wurde eine geistige Behinderung, durch Medikamente ausgelöst (Duogyn, Bayer), festgestellt und den noch sehr jungen Eltern (meine Mutter war 19) geraten, ihn in einen Sonderkindergarten zu stecken.
Aber wir sind in den frühen 70ern und Aufklärung sowie Förderung stecken noch in den Kinderschuhen.

Und so war der Kindergarten mehr eine Verwahrstelle für zurückgebliebene Kinder. Nun ist mein Bruder intelligenter, als es auf den ersten Blick scheint und so wurde er durch die Unterforderung sowie Konflikten mit anderen schwierigen Kindern noch schwieriger.

Er hatte schon immer seine eigenen Vorstellungen von falsch und richtig, was ihm oft Prügel für falsches Verhalten eingebracht hat. Meine Eltern waren oft überfordert und haben dennoch immer alles gegeben.
Andreas kann lesen, schreiben und rechnen, er ist nur leicht geistig behindert.
1972 kam erneut ein Junge zur Welt, pausbäckig und freundlich im Gemüt, 1977 das lang ersehnte Mädchen und Nesthäkchen.


Andreas war für mich immer ein toller Spielgefährte, zumindest bis ich etwas älter wurde und ziemlich gemein. Kinder können echt grausam sein. Und da ich das geliebte Nesthäkchen war, brauchte ich nur ein paar Tränchen zu vergießen und Andreas hat Prügel bezogen.

Noch heute tut es mir wahnsinnig leid, was er meinetwegen oft durchmachen musste.

So bestand unser Familienleben häufig aus Stress rund um Andreas, denn er ist oft zu spät gekommen und hat sich auf Reisen wiederholt für einige Stunden selbständig gemacht, was einmal beinahe dazu führte, dass er auf dem Weg von Österreich nach Venedig an der Raststätte den Reisebus verpasst hätte. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft meine Mutter bei Beratungsstellen war (mich im Schlepptau und ja, es hat geholfen).


Mit 18 kam er in eine Einrichtung außerhalb von Hamm, da er bereits mehrfach aus der Schule verschwunden war.
200 km weiter sollte er auf einem einsamen Hof mit anderen behinderten Menschen zusammen arbeiten, was ihm auch sehr gut getan hat. Aber auch von dort haute er ab und flüchtete sich in die Arme seiner Großmutter.
Alles in allem haben meine Eltern irgendwann gesagt: Du bist erwachsen, lebe dein Leben, wie du möchtest!
Und das tut er. Andreas wohnt heute in Konstanz, 600 km weit weg, ein Betreuer steht ihm zur Seite. Von Familienfeiern wird er meist aufgrund seines schwierigen Charakters ausgeschlossen, daher habe ich mich irgendwann einmal für ihn ausgesprochen, denn die Ungerechtigkeit gegen ihn konnte ich nicht mehr mit ansehen.

Seit ich erwachsen bin, sehe ich ihn mit anderen Augen. Er hat nun mal andere Vorstellungen vom Leben als wir und er ist harmlos. Und er bemüht sich sehr um meine Kinder.
Er hat mich gefragt, ob er nicht Amélies Pate werden könnte und diesen Wunsch haben wir ihm gerne gewährt. Diesen Posten nimmt er, zu unserer Freude, sehr ernst und trägt ihn mit Stolz.
Da sieht man mal:
Jeder Mensch hat seinen Platz im Leben.

Danke Steffi für deine Geschichte, die am Ende ein kleines Happy End hat. Und zeigt, dass auch Eltern an ihre Grenzen geraten und dass es nicht nur Schwarz und Weiß gibt. Amélie ist ein wundervolles Band zwischen euch Geschwistern und sie hat einen tollen Patenonkel.

Mehr von Amélie kann man auf ihrer facebook-Seite und auch bei Trisomie21.net lesen.






Alle Bilder: privat Danke, dass ich sie für die Veröffentlichung nutzen darf.

2 Kommentare:

  1. Hallo Martina!
    Auch wenn das hier thematisch nicht hingehört und ich dich schon gar nicht unter Druck setzen möchte:
    Du hattest im Post vom 31. Mai dieses Jahres über Pflegegrade informiert und angedeutet, dass bald noch ein Post zum Thema Windel(-Versorgung) folgen würde...
    Ich "sehne" diesen Post herbei, neulich lief nämlich noch ein passender Beitrag im Fernsehen: da ging es darum, dass viele Leute zum Einen unterversorgt sind und zum anderen die Einzelfall-Prüfung sehr indiskret abläuft.....
    In der Werbung werden immer die "tollen" Produkte für größere bettnässende Kinder umworben bzw. Die supertrockenen Kinderwindeln....ich finde, das passt nicht zusammen.
    Du warst ja (wie es sich in besagtem Post liest) auch nicht ganz zufrieden und ich schätze deine anschauliche und ehrliche Berichterstattung sehr.
    Vielen Dank

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Stimmt, inzw. habe ich mit dem neuen Versorger ausreichend Erfahrung gesammelt (gute) um mal Klartext zu reden, wie man uns vorher über den Tisch gezogen hat

      Löschen



MIT ABSENDEN DES KOMMENTARS STIMMT IHR DER DATENSCHUTZERKLÄRUNG https://jolina-noelle.blogspot.com/p/datenschutzerklarung.html SOWIE DER SPEICHERUNG EURER DATEN ZUM KOMMENTAR ZU.



ACHTUNG: Kommentare müssen freigeschaltet werden