Mittwoch, 10. Oktober 2018

Gastautorin Vanessa: Ich bin kein Schattenkind


Ich bin glücklich Euch diesen Text meiner Gastautorin zum Thema "Schattenkinder" veröffentlichen zu dürfen. Er zeigt einen ganz andere Geschwisterbeziehung, als die, in die wir letzte Woche den Einblick hatten.


Ich bin kein Schattenkind!
von Vanessa Liebehenz
„Als Schattenkinder werden gemeinhin die Kinder bezeichnet, die im Schatten Ihrer Geschwister stehen, die aus verschiedenen Gründen, meist wegen Krankheit oder ähnlichem, mehr Aufmerksamkeit bekommen. So stehen die gesunden Kinder im sprichwörtlichen Schatten und sind bzw. fühlen sich oft benachteiligt.“
Ariane Windsperger
Quelle: http://www.helpster.de/was-sind-schattenkinder_194698


Seit ich denken kann wünschte ich mir nichts sehnlicher als eine kleine Schwester. Eine Schwester mit der ich Spielen und Unfug machen kann. Die mich versteht, für mich da ist, beste Freundin und engste Vertraute wäre.

Und dann wurde Mama schwanger!

Am 28.11.1987 war es endlich so weit. Ich wurde große Schwester eines kleinen Mädchens, und WIR nannten sie Isabell - wie ich es mir gewünscht hatte. Wie sehr freute ich mich als Papa anrief um die frohe Nachricht zu verkünden und ich weiß noch als wäre es gestern gewesen wie seine Stimme ernster wurde und er mir sagte: „Isabell ist aber behindert und muss noch etwas im Krankenhaus bleiben.“

Behindert!? Das ist doch so wie unsere Nachbarin im Rollstuhl, daran ist doch nix schlimmes...



Nach vier endlosen Wochen an denen ich Isa zuerst nur durch dicke Glasscheiben hindurch, oder in der Kinderkardiologie im Schwesternzimmer auf dem Arm halten durfte, kam Isa über Weihnachten endlich zum ersten Mal nach Hause!

Ich war gerade in der ersten Klasse, Papa sah ich kaum weil er als Selbstständiger meist 24/7 auf Baustellen unterwegs war, und schon vor dem Aufstehen aus dem Haus war und nach dem Zubettgehen nach Hause kam. Mama hat damals auch einen Tag in der Woche gearbeitet, parallel das Abitur nachgeholt und später begonnen zu studieren. Alles war geplant: Eigentlich wollte Mama ihr Studium schnell wieder aufnehmen und irgendwann wieder anfangen zu arbeiten, aber Isa hat alles irgendwie ‚durcheinander‘ gebracht.

Wie sehr unsere kleine Isabell unser Leben im positiven Sinne jedoch auf den Kopf gestellt hat erkenne ich eigentlich erst heute!
Papa holte seine Firma kurzerhand zu uns nach Hause und arbeitete ab sofort größtenteils von zuhause aus, damit immer einer für uns da war. Mama hängte ihr Studium an den Nagel, stürzte sich kopfüber in die Behindertenarbeit bei der Lebenshilfe und war ‚hauptberuflich’ für uns Mädchen da. Zusätzlich hatten wir einen Zivildienstleistenden der abwechselnd entweder Babysitter für Isa war, oder Ausflüge mit mir machte. Ich kann mich nicht erinnern, dass Mama und Papa sich in der Zeit mal einen ‚kinderfreien Abend‘ gegönnt hätten und mal zu zweit was unternommen hätten. Im Gegenteil immer nahmen sie uns mit. Nicht einmal eine Wochenendreise gönnten sie sich alleine in all der Zeit...

Ich ging regelmäßig mit zu Isabells Therapien und durfte regelmäßig sogar mit machen und Isa musste geduldig warten während ich beim Ballett war. Sie hatte zu keinem Zeitpunkt einen behinderten oder kleine Schwester Bonus. Mama und Papa waren immer für uns beide da!

Natürlich gab es bei uns auch mal Streit, aber nie hatte es etwas mit dem Down Syndrom zu tun, sondern damit dass Geschwister sich immer mal streiten und anderer Meinung sind. In der übrigen Zeit waren wir ein Herz und eine Seele.

In der Schule wurde ich oft bedauert, weil ich ja so ein armes Geschwisterkind sei und solch eine Schwester ja bestimmt ganz schlimm für mich ist. Eine Sonderschullehrerin während meines Praktikums meinte gar Mama und Papa müssten uns zwangsweise auseinanderhalten, denn Isa würde mein Leben zerstören. Und das nur weil für mich seitdem ich ein Kind bin feststeht, dass Isabell später bei mir leben und nicht in ein Heim kommen wird.

Oft wurde ich mit Vorurteilen konfrontiert, dass ich so nie einen Partner finden würde, weil kein Mann eine Schwester mit Down Syndrom akzeptieren würde. Ich allerdings habe es seit je her ganz anders gesehen. Wenn ein Mann mich will und meine Schwester nicht akzeptieren kann, dann wird er auch für mich nicht da sein wenn mir etwas passiert oder ich krank werde und auf solche Menschen verzichte ich gerne.


Ich will absolut nicht abstreiten, dass es Schattenkinder gibt, aber meiner Meinung nach sind daran in den seltensten Fällen die behinderten Geschwister schuld, sondern die Eltern die es nicht schaffen den Bedürfnissen ihrer Kinder gleichermaßen gerecht zu werden und die Umwelt, die jedes und alles an dem Vorhandensein eines behinderten Geschwisterkindes fest macht.

Ich bin überzeugt, wäre Isabell nicht behindert, hätte ich nicht so eine tolle Kindheit gehabt in der Mama UND Papa sooo viel mit uns unternommen haben. Dank Isa waren unsere beiden Eltern viel zuhause und für uns da. Ja, ohne Isa wäre ich nach dem Abi vielleicht ins Ausland gegangen oder wäre irgendwann aus Hamburg weggezogen. Vielleicht hätte ich einen der Männer geheiratet die den Isa-Test nicht überstanden haben und wäre schon wieder geschieden, vielleicht wäre ich eine dieser abgehobenen Tussen geworden,
weil keine Isa mir beigebracht hätte worum es im Leben wirklich geht.


Sie ist meine beste Freundin! Mit ihr kann ich über alles sprechen und sie ist immer für mich da genauso wie ich es für sie bin. In einem knappen Jahr wird sie meine Trauzeugin, denn ich hätte diese Aufgabe niemals jemand anderem zuteilen wollen! Ich bin überzeugt dass Isabell einen riesigen Anteil daran hat, dass ich der Mensch geworden bin der ich bin, aber ich bin ebenso überzeugt, dass ich zu keinem Zeitpunkt in ihrem Schatten gestanden habe. Im Gegenteil, sie hat mich bestimmt mehr als nur einmal in ihrem Licht erstrahlen lassen




Vielen Dank für diesen Text. Mein Herz hat sich geöffnet und ich hoffe, dass meine Töchter in ein paar Jahren ähnlich miteinander umgehen und auch sagen, dass alles richtig gelaufen ist.
Ich denke die Geschichte der beiden gibt Eltern auch ganz viel Kraft und Mut für die Zukunft, wenn man sieht wie bereichernd eine Schwester mit Down Syndrom auch sein kann.

Alle Fotos: privat mit der freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung

5 Kommentare:

  1. Einfach nur "WOW"
    Vielen Dank!!!

    AntwortenLöschen
  2. Alles Liebe u Gute den zwei Schwestern! 😍

    AntwortenLöschen
  3. Ich habe Gänsehaut und Tränen in den Augen.
    So viel Liebe, das ist wunderschön.
    Ich wünsche euch beiden von Herzen alles, alles Liebe und Gute.

    AntwortenLöschen
  4. Liebe Vanessa,
    was für ein unglaublich schöner und liebevoller Text! Was für ein riesen Kompliment an deine Eltern und deine Schwester! Ich bin zutiefst beeindruckt davon, dass ihr als Familie diese Klarheit in euch tragt, was im Leben wichtig ist. Deine Dankbarkeit liest sich wunderschön in jedem Wort der geschriebenen Zeilen...Danke, dass du deine Gedanken mit uns geteilt und nicht zuletzt zum nachdenken angeregt hast...LG Pamela

    AntwortenLöschen
  5. Unser Sohn hat gleich zwei ältere Schwestern, ich hoffe sie sehen das in 20 Jahren wie du :-) sie sind 3 und der kleine 5 Monate alt...

    AntwortenLöschen



MIT ABSENDEN DES KOMMENTARS STIMMT IHR DER DATENSCHUTZERKLÄRUNG https://jolina-noelle.blogspot.com/p/datenschutzerklarung.html SOWIE DER SPEICHERUNG EURER DATEN ZUM KOMMENTAR ZU.



ACHTUNG: Kommentare müssen freigeschaltet werden