Dienstag, 16. März 2021

Darf man noch "Behindert" sagen?

Darf man Behindert sagen?

Darf man eigentlich "behindert" sagen?

Ich wünschte ich könnte darauf eine einfach Antwort geben, doch was ist heute noch einfach in der deutschen Sprache?

Man ist ständig dabei in Fettnäpfchen zu treten die früher noch keine waren, weil sich Sprache ändert, oder vielleicht weil sich ihre Interpretation ändert?

Vielleicht weil immer mehr Menschen viel zu dünnhäutig werden und in jedem Begriff einen Angriff wittern, auch wenn man es gar nicht böse meint.

Auch mir wurde schon so oft über den Mund gefahren, im übertragenen Sinne, wenn ich etwas geschrieben habe, das vielleicht nicht korrekt war nach der neuesten Sprachvariation.
Auch deshalb kann man hier nicht mehr kommentieren, ich bin müde Besserwissern und Kugscheißern ein Parkett zu bieten, leid tut es mir um die, die liebe Kommentare schreiben, doch die sind eh fast Richtung Null gegangen.

Behindert:

be·hin·dert
/behíndert/
Adjektiv
  1. infolge einer körperlichen, geistigen oder seelischen Schädigung beeinträchtigt
    "behinderte Menschen"


Gelernt habe ich, dass behindert nie am Anfang stehen darf, somit ist diese Definition leider veraltet, es muss "Menschen mit Behinderung" heißen, nicht "behinderte Menschen".
Das hat man mir mal ganz ausführlich erklärt, als ich den Fehler auch gemacht habe, der Mensch muss vorne stehen, den er ist wichtig, nicht seine Behinderung.

Mein Deutschlehrer in den 80ern hätte gesagt, dass beides möglich ist grammatikalisch gesehen, das eine aber etwas eleganter klingt als das andere. 
Ach ja, nicht zu vergessen, mein Deutschlehrer war behindert, so haben wir ihn aber nie gesehen als den kleinwüchsigen Mann, der auch noch einen Buckel hatte und dadurch seine große Aktentasche fast am Boden schleifte.
Er war vieles in unseren Augen, er war der Typ der IMMER! am Fastnachtdienstag in der ersten Stunde eine unangesagte Ex schrieb, weil er wusste, dass wir bis am frühen Morgen gefeiert hatten.
Er war der Lehrer mit den anzüglichsten Sprüchen gegen Mädchen und Mädchen bekamen immer eine bessere Note bei ihm.
Er hatte einen köstlichen Humor, konnte toll erzählen und quälte uns mit Goethe zum Erbrechen, weil er den liebe, Schiller? nö, dafür war keine Zeit, egal, er hat meine Liebe zur Sprache geprägt und erst jetzt beim schreiben fällt mir auf, er war eigentlich behindert, aber nur eigentlich, denn ich habe es nie erwähnt, gedacht, oder so empfunden, er war so viel mehr.

Die deutsche Sprache ist so flexibel und man kann so schön mit ihr spielen, das macht es auf der anderen Seite dadurch aber wieder schwer.

Aber darf ich jetzt behindert sagen, oder nicht?

Ja klar, das ist der passendste Begriff.

Also bitte, versteh mich nicht falsch, behindert darf man natürlich nicht benutzen als Schimpfwort oder als Zustandsbeschreibung, wenn ein Tag mal doof gelaufen ist, oder man jemanden für untoll hält.

Natürlich finden sich die coolen Socken gar nicht mehr so cool, wenn sie statt "Ey, du bist voll behindert!" sagen würden "Ey, du bist sowas von untoll!" Zudem gibt es das Wort gar nicht.

Das Wort BEHINDERT gibt es aber und es steht für etwas anderes und es zu missbrauchen finde ich mehr als untoll, ich finde es extrem einfallslos, ärgerlich und ein bisschen asozial.

Es gibt natürlich auch offizielle Definitonen:

"Behindert" sind nach § 2 Absatz 1 des Neunten Sozialgesetzbuchs (SGB IX) Menschen, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Wenn die Beeinträchtigung der Teilhabe zu erwarten ist, ist die Person von einer Behinderung bedroht (Quelle VDK)

Ich finde das Wort Be-hindert beschreibt so schön was es eigentlich aussagt.

etwas HINDERT einen daran etwas zu tun, wie es der Großteil der Menschen es kann, es BE HINDERT einen. Da ist doch nichts schlimmes an dem Wort.

Wer Hör BEHINDERT ist, kann nicht so hören wie andere, etwas hindert daran wie alle zu hören.
Wer Geh BEHINDERT ist, kann nicht so gehen wie andere, etwas hindert daran wie alle zu gehen.
Wer Seh BEHINDERT ist, okay, ich glaube ich muss das jetzt nicht weiter erklären.

Wenn man Betroffene und Angehörige fragt, ist inzwischen auch durchweg die Aussage, dass Behindert das richtige Wort ist und alles andere ein "Drum Herum Gerede"

Da viele Menschen aber befürchten, allein mit dem Wort Behinderung zu beleidigen oder zu stigmatisieren, hat sich Handicap als Begriff etabliert. Gerne werden auch beschönigende Alternativ-Ausdrücke, wie z.B. „besondere Bedürfnisse“ oder „andersfähig“ gewählt.(Quelle Google)

Mich gruselt es übrigens bei dem Begriff "Besondere Kinder"
Viele Eltern benutzen es um das Wort behindert zu vermeiden, dabei ist Be Sonders nicht unbedingt netter, wenn man sich das Wort genau anschaut.

Be SONDERS und Ab SONDERN sind vom Ursprung verwand, genau wie SONDER bar

oder was sagt die Wortdefinition?

be·son·ders
/besónders/
Adverb
  1. 1.
    gesondert, getrennt, für sich allein
    "vom Gesetz besonders aufgeführte Fälle"
  2. 2a.
    vor allem, insbesondere
    "besonders heute"
Ähnlich
1.
extra
für sich [allein]
für sich genommen
gesondert
getrennt
individuell
separat
in Sonderheit
2.
auffallend
aufs Äußerste
ausgemacht
ausgesprochen
ausgesucht


Schlimm, oder?


Auf Jolinas Ausweis steht Schwerbehindertenausweis, das ist im ersten Moment schon ein bisschen heftig, man kann verstehen, dass Eltern zusammenzucken, wenn ihr Kind diesen Ausweis bekommt, obwohl sie vorher dafür gekämpft haben.
Ich kann auch verstehen, dass ein Betroffener
(darf man das sagen? ach egal, ich tue es einfach, weil ich keine böse Absicht dahinter erkennen kann, obwohl treffen, ist ttreffen schlimm, wie mit einer Waffe? Ach Scheiße, es ist einfach schwer inzwischen miteinander zu sprechen, ohne, dass sich jemand beleidigt fühlen könnte. Vielleicht sollten wir aufhören miteinander zu spr... ach nein, bitte nicht!)

Okay, richtig wäre wohl Betroffene*r
(schon wieder so eine neue Hürde über die ich ständig stolpere und sicher genau so lange brauche mich daran zu gewöhnen wie die Rechtschreibreform, seit der ich Fahrrad fahren oder doch Fahrradfahren nach Möglichkeit gar nicht mehr schreibe, weil ich nur noch verwirrt bin)

Ich kann verstehen, dass Betroffene (ätsch) sich auch nicht gerne mit einem SCHWERbehindertenausweis identifizieren wollen, doch im Prinzip sind wir doch alle irgendwie behindert, allein die vielen Brillenträger, doch eben alle nicht SCHWER genug um diesen Ausweis sein eigen nennen zu dürfen.

Hätte ich jetzt die Kommentarfunktion frei geschaltet würde ich wieder beschimpft, weil es immer jemand gibt der sich angegriffen fühlt und das auch nicht ruhig und plausibel erklärt warum, sondern sich einfach nur aufregen möchte und es nicht zum tausendsten Mal erklären will.
Okay, bei mir wäre es vielleicht das erste Mal.
In dem Fall empfehle ich das zusammenleben mit einem Kind mit Down-Syndrom, das brauch nämlich das tausendfache an Wiederholungen eines "Neurotypischen" Kindes, ich wollte jetzt nicht "normal" schreiben, denn das finde ich unpassend und was ist schon normal?

Was dieser Beitrag sagen will, ist, dass es nicht wirklich einfach ist sich richtig auszudrücken.

Auf jeden Fall ist BEHINDERT das richtige Wort, und das werden dir auch die meisten Menschen mit einer Behinderung so sagen.


Im Sinne der Inklusion sollte es sowieso nicht wichtig sein ob jemand eine Behinderung hat, sondern, wie man die Teilhabe ermöglichen kann.

Ich habe übrigens 2012 schon mal etwas zu Behindert geschrieben

Da war seit langem wieder mal ein Hirnpups der raus musste und ich klicke jetzt mit mulmigem Gefühl auf "Veröffentlichen" 

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