Die letzten Wochen, oder Monate waren ein wenig anstrengend, ich denke für uns alle und daher hat meine Serie über die Pubertät bei Jugendlichen mit Down-Syndrom etwas pausiert.
Im ersten Teil ging es um die Privatsphäre, im 2. Teil war die Identitätsfindung das Thema und heute geht es besonders um uns Eltern und den wirklich extremen Spagat vom LOSLASSEN und trotzdem BEGLEITEN
Loslassen
Der erste wichtige Punkt ist, dass wir loslassen müssen, viele Eltern können das nicht.
In den unterschiedlichsten Lebensphasen des Kindes müssen Eltern sich selbst ein wenig zurücknehmen, loslassen und dem Kind Platz zum entfalten und entwickeln geben.
Wir müssen oft so viele Kämpfe führen, um für die Kinder mit Down-Syndrom das zu bekommen was ihnen zusteht und was sie brauchen, daher fällt es zusätzlich schwer etwas aus der Hand zu geben, einfach mal laufen lassen, weil wir ja gelernt haben, dass es grundsätzlich nicht läuft, wenn wir nicht alles kontrollieren.
Dies beginnt bereits im Kindergarten
Oft wäre das Kind bereit, aber die Eltern nicht. Manchmal glaube ich die behutsame Eingewöhnung ist für viele Eltern fast notwendiger als für die Kinder, damit sie Vertrauen fassen können, dass das Kind das schon schafft und, dass Erzieher es kompetent begleiten. (Na ja, ich habe auch andere Erfahrungen gemacht, doch das merkt man sowieso erst mit der Zeit)
Weiter geht es mit der Einschulung.
Hier unterscheiden sich Eltern von Kindern mit Behinderung immer noch nicht wirklich von solchen, deren Kinder keine diagnostizieren Extras haben.
Es gibt Mütter, die würden am liebsten hinten mit in der Klasse sitzen.
Und dann kommt die Pubertät.
In der Regel ist das der Prozess in dem sich Jugendliche selbst abnabeln und ihren Eltern zeigen: "Bis hier hin und nicht weiter!" Jugendliche haben den natürlichen Drang selbst Erfahrungen zu machen, auch Fehler zu begehen und wachsen daran Lösungen zu finden.
Hier haben wir plötzlich das erste Mal wirklich heftig im Leben der Kinder und Jugendlichen mit Down-Syndrom ein großes Problem mit dem tatsächlichen Alter und der altersgerechten einsetzenden Pubertät und dem Entwicklungsalter.
Das fordert uns Eltern extrem und wir müssen wirklich hinschauen, dass wir hier Jugendliche vor uns haben und keine Kleinkinder, auch wenn ihr Entwicklungsstand dem nicht entspricht.
Übertragen auf ein Kind ohne Down-Syndrom wäre es so ähnlich, als würde man einer 5 jährigen erklären müssen, dass sie demnächst ihre Periode bekommt und warum ihr Brüste wachsen.
Allerdings ist es nicht so einfach, denn der Drang nach Eigenständigkeit haben auch Jugendliche mit Down-Syndrom, nur nicht ganz so früh stark ausgeprägt, bzw hier kommt oft eine anerzogene Hilflosigkeit und Bequemlichkeit dazu.
Wenn wir als Eltern nicht schon rechtzeitig mit Training der Eigenständigkeit angefangen haben, dann stehen wir jetzt vor unseren Kindern, denen Schambehaarung wächst und ziehen sie noch an, oder seifen sie beim duschen ein.
Das ist für keine der Seiten gut, viele Eltern merken gar nicht, dass sie ihre Kinder abhängig von ihnen machen.
Der Schlüssel dazu ist früh anfangen und Geduld, Geduld, Geduld.
Klar ist alles am Anfang nicht perfekt und dauert gefühlt stundenlang, diese Zeit muss man einplanen und wenn die Schuhe 100 Mal falsch herum angezogen werden, beim 150. Mal klappt es dann und vielleicht ab dem 200. Mal sind sie nur noch selten falsch herum.
Loslassen fängt nicht erst in der Pubertät an, da ist es fast schon zu spät und man steht vor einem Riesenberg an Aufgaben.
Wir müssen den Jugendlichen das Gefühl geben, dass wir ihnen etwas zutrauen, auch wenn wir dabei selbst große Zweifel und Ängste haben, nie darf man sich das anmerken lassen.
Zudem wird man oft überrascht, wie problemlos alles klappt, wenn man nicht vorher jedes Problem das auftreten könnte herbeiredet.
Wenn ich höre, dass Eltern eines Jugendlichen mit 11 Jahren sagen, dass der noch nie woanders geschlafen hat und sie ihm das auch nicht zutrauen, weil er bestimmt schrecklich traurig ist und Heimweh bekommt, sehe ich vor meinem geistigen Auge, die Kindergartenszenen aufploppen, mit Müttern die glauben ihre Kinder sitzen heulend in der Gruppe und ich sah diese Kinder jedoch zur gleichen Zeit fröhlich spielend und gar nicht mehr an die Mama denkend.
Und natürlich gehört mal traurig sein und und Heimweh haben auch zum Leben dazu.
Wir können doch nicht erwarten, dass wir es schaffen, dass wir unsere Kinder immer davor bewahren traurig zu sein. Selbst wenn wir das schaffen bis sie 20 sind, in welches Chaos stürzen die dann, wenn plötzlich diese Welt nicht so nett ist, wie in ihrem Regenbogen-Zuckerwattenleben?
Dieses Überbehüten führt zu unselbständigen Menschen, die plötzlich nach dem Tod ihrer Eltern vollkommen hilflos einer komplett anderen Welt ausgeliefert sind, als sie das bisher gewohnt waren.
Wenn wir unsere Kinder lieben, dann müssen wir loslassen
Begleiten
Das Problem mit dem Loslassen ist, dass wir es dosieren müssen und den Spagat schaffen gleichzeitig intensiv zu begleiten durch diese echt schwierige Pubertät.
Unsere Jugendlichen reifen also zu Mann und Frau heran, genau wie alle anderen Jugendlichen, nur ihr Geist ist leider noch in einer ganz anderen Phase.
Wenn ich einem 13 jährigen Jugendlichen mit Aufklärung komme, dann tippt der/die sich an die Stirn und sagt mir wahrscheinlich, dass das eh zu spät ist.
Ein Jugendlicher mit Down-Syndrom wird dieses Wissen wahrscheinlich nicht aus den Quellen geschöpft, oder wenn, dann nicht richtig verstanden haben, wie das andere Jugendliche tun.
Die haben das Internet, ihre Peergroup und weitere Möglichkeit genutzt um ihr Wissen zu erweitern und es gibt kaum etwas peinlicheres als Eltern die aufklären wollen.
Die Jugendlichen mit Down-Syndrom brauchen unsere Begleitung in vielen Themen der Pubertät und wir müssen da ganz klar, deutlich und in einfacher Sprache darüber sprechen.
Wir müssen hier auch vielleicht über unseren eigenen Schatten springen, doch es ist wichtig um auch vor späteren Übergriffen zu schützen, oder Fehlverhalten entstehen zu lassen.
Auf die einzelnen Punkte werde ich in späteren Folgen noch eingehen.
Wir können nicht davon ausgehen, dass eine Beratung in einer spezialisierten Stelle, oder ein paar Stunden Sexualkunde in der Schule unsere Jugendlichen mit T21 fit für das Thema gemacht haben, wenn wir doch wissen wie viele Wiederholungen sie sonst brauchen um etwas wirklich zu verstehen.
Wir müssen also zwei entgegengesetzte Dinge tun, Loslassen und doch Begleiten und beides in der gerade richtigen Dosis und eine Gebrauchsanweisung dafür gibt es auch nicht.
Mist!
Ja, das ist nicht einfach, stimmt.
Wichtig ist, dass wir immer die Zukunft im Blick haben und unsere eigenen Befindlichkeiten zurück stellen. Die Pubertät ist die Phase in der wir Eltern weniger wichtig werden und vielleicht hilft es uns ja, dass die Kinder in der Zeit echt biestig sein können.
Spätestens ein pubertierender Jugendlicher mit Down-Syndrom zeigt deutlich, dass Sonnenscheinkinder und die sooo lieben Menschen, Märchenerzählungen sind.
Wir müssen auch wissen, dass nicht nur wir Eltern in dieser Zwickmühle stecken, die Jugendlichen noch viel, viel mehr. Diese Zerrissenheit ist da, auch wenn sie es nicht in Worte fassen können.
Jolina sagt immer: "Ich bin schon groß, gell?" Sie ist stolz schon ein großes Mädchen zu sein und verlangt da auch Bestätigung.
Im nächsten Moment versucht man behutsam auf die körperlichen Veränderungen einzugehen und sagt "Du wirst eine kleine Frau" dann kommt immer: "Ich bin keine Frau, ich will keine Frau sein!"
Da wir gerade mitten in der Pandemie stecken fällt es auch uns schwer so zu handeln wie es unserer Tochter gut tun würde. Das Begleiten ist kein Problem, doch das Loslassen ist gerade erschwert.
Es gibt keine Freizeittreffs, wo Jugendliche weg von den Eltern Zeit miteinander verbringen können und auch soziales Miteinander üben können.
Es gibt keine Möglichkeit mit der Klasse auf Klassenfahrt mal Eigenständigkeit zu üben und eine Nacht nicht im eigenen Bett zu schlafen.
Es ist nicht die richtige Zeit um einen Jugendlich mal alleine in ein Geschäft zu schicken, weil es da noch sonst so viele zusätzliche Regeln gibt.
Es ist nicht die richtige Zeit, dass sie den Jungen, den sie sehr mag einmal hierher einladen kann.
Im nächsten Teil möchte ich über den Körper schreiben.
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