Schon lange wollte ich diesen Beitrag schreiben, oder mit einer kleinen Reihe darüber beginnen, doch fühlt es sich jetzt im Moment erst richtig an darüber zu schreiben, weil wir gerade die Erfahrung machen und jetzt auch aus unserer Sicht der Dinge die da gerade einsetzen berichten können.
Wie so vieles schien es lange noch weit, weit entfernt in der Zukunft und doch kam es schneller als man dafür bereit war.
So ging es mir mit Kindergarten, Schule und jetzt im Sommer dem Schulwechsel.
Ich sage ja immer mit Jolinas langsamer Entwicklung ist man entschleunigt, aber trotzdem habe ich das Gefühl es geht alles viel zu schnell, jedenfalls die Dinge auf die man nicht so sehnsüchtig wartet, wie das bei den ersten Schritten, Sprechen und Windelfrei war.
2019 nahm ich im PEp in Mainz an einem Vortrag über Pubertät bei Jugendlichen mit Down-Syndrom teil.
Damals dachte ich, ich sei da viel zu früh dabei, doch der Termin schien mir gerade günstig und am Ende habe ich alles richtig gemacht, denn 2020 gab es keine Vorträge und, für mich immer noch etwas unbegreiflich, setzten im Sommer bei Jolina die ersten pubertären, zickigen Züge ein.
Den Vortrag hielt Julia Gottfried (früher Wenke), die auch bis zu ihrer Elternzeit Jolinas Pädagogin im PEp war. Sie bestärkte mich auch, dass es nicht zu früh sei diesen Vortrag für mich mit zu nehmen.
Es gibt Dinge die hört man und denkt: "Ja, das mag bei allen anderen so sein, aber bei uns doch nicht!"
So ging es mir mit der Aussage, dass Kinder mit Down-Syndrom zwar bei fast allem in der Entwicklung etwas langsamer sein können, nur in die Pubertät, da kommen sie genau so pünktlich wie ihre Altersgenossen mit nur 2 mal Chromosom 21.
Ich konnte und wollte es tatsächlich nicht glauben und begründete es für mich damit, dass auch jede körperliche Entwicklung bei Jolina hinterherhinkte, sogar im Mutterleib war sie entwicklungsverzögert.
Ihr Zahnwechsel ist eine mittlere Katastrophe und auch sonst war ihr Körper noch sehr hinterher in der Entwicklung und ich selbst war ja auch nicht unbedingt früh damit.
Seit dem Schulwechsel hat sich unsere Tochter zu einer Mega-Zicke entwickelt, wir waren uns nicht sicher ob es an anderen Einflüssen liegt, oder ob es tatsächlich das ist, was wir vermuten, sie wird groß.
Natürlich gibt es auch körperliche Veränderungen, ihre Beine sind enorm in die Länge gewachsen und auch sonst lässt sich erahnen, dass da eine kleine Frau heranwächst und da war klar: Mist es ist doch die Pubertät.
Wenn ich übrigens dachte, dass es von Vorteil wäre, dass ich 2 Töchter in dieser Phase habe, auch hier habe ich mich geirrt.
Da beide in unterschiedlichen Phasen stecken, gehen die sich auch gegenseitig auf die Nerven und so bin nicht nur ich als Mutter peinlich, sondern auch die andere Schwester.
Das ist ein Beweis, dass es wirklich so wichtig ist, was Julia Gottfried schon im Vortrag erwähnte,
Jugendliche in dem Alter brauchen besonders ihre Peergroup, also Gleichaltrige.
Leider arbeitet Corona und die Kontaktbeschränkungen gerade sehr dagegen und auch die Entfernung der Gleichaltrigen die Jolina vom PEp kennt.
Wichtig wäre es, dass Jolina Gleichaltrige auch abseits von Schule und Therapie zum Abhängen treffen könnte, da vermisse ich ein Angebot, wie es sowieso auch für unsere Große ohne Behinderung hier nichts im Ort gibt, wo Jugendliche mal ungestört unter sich sein können.
Eigentlich sehe ich hier solche Anbieter wie Lebenshilfe, Kirche, Diakonie usw in der Pflicht. Es wäre zwar schön und im Sinne der Inklusion, dass Jugendliche mit Behinderung hier mit Jugendlichen ohne Behinderung ihre Freizeit verbringen, doch bei einer geistigen Entwicklungsverzögerung ist das einfach schwierig, denn die Interessen sind nicht immer deckungsgleich und auch die Erfahrungen die man mit der Umwelt macht.
Notiz für mich, wenn nach dieser Pandemie der Kreis der Gleichaltrigen des großen Down-Syndrom Vereins Mainz sich wieder treffen, dann muss ich da hin, wir als Familie können unserer Tochter nicht das bieten was sie gerade braucht, Jugendliche die genau in dieser schwierigen Umbauphase stecken wie sie.
2 Dinge vom Vortrag haben wir so weit es ging damals direkt umgesetzt und auch Jolina dafür sensibilisiert.
1. Privatsphäre
2. Identität
Über die Privatsphäre möchte ich heute sprechen.
Warum ist das bei einem Kind mit Behinderung eher Thema?
Im Prinzip behandelt man oft 10 jährige nicht wie man 10 jährige üblicherweise behandelt. (Das Alter habe ich jetzt willkürlich gewählt und könnte auch ein anderes sein)
Kinder mit Down-Syndrom hinken der durchschnittlichen Entwicklung meist hinterher, deshalb behandeln wir sie unbewusst auch ihrem Entwicklungsalter entsprechend und nicht wie es in dem Alter angebracht wäre.
Ganz wichtig ist, dass Eltern und Bezugspersonen hier sehr reflektiert die Kinder/Jugendlichen für das Thema Privatsphäre, oder "Das ist Privat!" sensibilisieren.
Es gibt dafür auch kein zu früh.
Ich vergleiche es mit dem Fehler, dass Eltern ihre bockigen Kleinkinder einfach hochheben und weg tragen, es ist der einfachste Weg, doch nicht der, der auf die Zukunft gerichtet ist, denn es kommt der Punkt, da ist das Kind zu schwer, bockt aber immer noch und man steht hilflos vor der Situation, weil man nicht schon früher andere Lösungsmöglichkeiten gesucht hat.
Im übertragenen Sinn kann es einem passieren, dass sich ein 16 jähriger im Sommer in der Öffentlichkeit entkleidet, weil ihm Privatsphäre nicht wichtig ist.
Es ist wichtig den Kindern früh beizubringen, dass es Dinge gibt, die sind privat, dieses Wort nutzen wir auch immer wieder mit Jolina.
Es bedeutet, dass die Kinder lernen müssen, dass irgendwann die Zeit gekommen ist, wo man die Eltern nicht auf die Toilette begleitet. Welche Mutter kennt es nicht, dass sie selbst dort nicht ihre Ruhe hat und die Kleinen dabei sind, doch irgendwann muss die Tür zu sein, egal wie offen man sonst in der Familie mit diesem Thema umgeht, doch wir müssen das vorleben was wir von unseren Kindern erwarten und ich möchte, das Jolina in einem Restaurant, in der Schule und bei Freunden in den Waschräumen die WC-Tür zu macht.
Jolina möchte inzwischen auch, dass wir den Raum verlassen, wenn sie sich umzieht. Das ist ein großer Erfolg, dass sie hier ein gewisses, sehr gesundes Schamgefühl entwickelt hat und wo kann man das besser üben als zu Hause.
Schwierig ist es natürlich, dass es Bereiche gibt wo man länger helfen, oder auch nur durch Anweisungen unterstützen muss.
Bei uns ist das Duschen und Haare waschen. Das eine unterstützen wir nur noch verbal, doch gerade bei Jolinas langen Haaren müssen wir noch etwas mit helfen, doch wir üben und auch das wird sie bald alleine meistern.
Jedes Kind, jeder Jugendliche mit Down-Syndrom ist komplett unterschiedlich was die geistige Reife und Selbständigkeit betrifft, nur arbeitet die Zeit gegen uns, alle werden erwachsen.
Mir ist bewusst wie fließend die Grenze in diesem Bereich ist.
Auch Jolina trug mit 7 noch Windeln und Privatsphäre ist dann wirklich schwierig einzuhalten. Das macht es auch für Betreuer und Eltern nicht leichter.
Mir ist der Schutz vor Übergriffen besonders wichtig und da mache ich keinen Unterschied zwischen männlich oder weiblich. Beiden Geschlechtern muss es zum einen klar sein, dass es Stellen gibt, die keiner so einfach anfassen darf, denn die sind PRIVAT und man selbst darf die bei anderen auch nicht ungefragt anfassen.
In dem Fall spreche ich noch nicht über spätere Intimität, die sehr wohl okay ist, doch erst muss ein Selbstverständnis entstehen, dass da niemand einfach so hin fassen darf und wenn doch, muss man NEIN sagen und danach mit jemand darüber reden, weil das nicht okay war.
Ein Mensch mit Behinderung sollte gerade in diesen Bereichen keinen Freifahrtschein bekommen mit der Entschuldigung "Er/sie ist ja behindert."
Natürlich bin ich nur Mutter und keine ausgebildete Therapeutin oder Pädagogin.
Jeder muss seinen Weg finden, der zu einem selbst und dem Kind passt, doch man sollte immer die Zukunft im Blick haben und was man für sein Kind möchte.
Die Pubertät ist ein Rieseneinschnitt und ich muss sagen der kommt gerade bei Jolina und ich empfinde es als viel extremer als vorher bei Louisa.
Manchmal habe ich das Gefühl Jolina entwickelt sich in manchen Bereichen ohne Zwischenstufe vom Kindergartenkind zum Teenager.
Gerade kommt sie rein und sagt cool grinsend: "Ich hab nen Bärenhunger!" vor kurzem teilte sie uns noch mit sie hätte Bauchweh, wenn sie etwas essen wollte.
Ich sehe hier eine große Chance, dass Entwicklung, auch der Sprache, große Fortschritte macht, doch mir ist auch klar, das wird uns in den nächsten Jahren extrem fordern, mehr als es bei Eltern pubertierender Teenager eh schon der Fall ist.
Als nächstes werde ich die Identität ansprechen und da hatten wir gerade jetzt an Weihnachten eine überraschende Erfahrung gemacht.
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