Mittwoch, 19. August 2020

Wie ein Mutterherz leidet, wenn das eigene Kind abgelehnt wird

Mädchen mit Down-Syndrom auf Klettergerüst

Es ist ziemlich genau 5 Jahre her als ich einen emotionalen Beitrag schrieb über eine unaussprechliche Begegnung auf einem Spielplatz im Urlaub.
Diesen Beitrag schrieb ich direkt und noch sehr aufgewühlt. Man findet ihn unter dem Titel: Bespuckt, Ausgeschlossen und Gejagt.

Heute schreibe ich mit einem Monat Abstand zu der letzten Beggegnung, wieder auf einem Spielplatz im Urlaub und könnte auch den Titel geben

Abgelehnt, Angewidert und Geflüchtet




Mädchen mit Down-Syndrom auf Klettergerüst

Es ist wieder im Urlaub passiert, wieder auf einem Spielplatz und wieder war es eine Deutsche die sich nicht wirklich mit Ruhm bekleckert hat.

Ich denke das liegt daran, dass auf einem Spielplatz, besonders im Ausland, ganz unterschiedliche Menschen zusammentreffen, mit denen man sonst nie Kontakt hätte.
Das was mich aber dieses Mal wieder so getroffen hat ist, dass es eben wieder in den Niederlanden passiert ist. Das ist so mein Land der Glückseligkeit, denn dort ist es eigentlich egal wer du bist, ob du schwul bist, eine dunkle Hautfarbe hast, oder eben Behindert, in den Niederlanden sind die meisten Menschen tolerant. Das kommt einfach daher, weil man so eng aufeinander sitzt und man schon immer leben und leben lassen praktiziert.

3 mal hatte ich im Urlaub unschöne Momente, in denen Jolinas Behinderung für andere wohl nicht so okay war (keine Ahnung wie ich es nennen soll?).

Ich hatte diese Geschichte, die ich dir gleich erzähle auch schon direkt, mit zusammengezogenem Magen auf Instagram erzählt und trotz Verständnis von den meisten kam auch Gegenwind, ich sei empfindlich und ich müsse auch die andere Seite verstehen.

Ob ich das muss, entscheide du für dich.

Mädchen mit Down-Syndrom auf Klettergerüst

Jolina liebt Spielplätze und an diesem mussten wir ständig vorbei und sie war immer überglücklich, wenn wir kurz dort eine Pause einlegten, dass sie klettern kann, da hat sie trotz ihrer 11 Jahre immer noch einen Riesenspaß daran.

An diesem einen Tag gingen wir also schon mit dem Ziel Spielplatz los und Jolina war sofort am Klettern und Spielen.

Jolina liebt es auch Kontakt zu anderen aufzunehmen, sie möchte auch Freunde haben, sie ist jetzt viele Monate ganz alleine gewesen, bis auf uns und Louisa. Jolina hat nur Freunde in der Schule, hier im Ort hat sich nie etwas ergeben aus verschiedenen Gründen.

Jolina mag auch kleine Kinder, sie wäre eine wundervolle große Schwester, leider bin ich dafür etwas zu alt. Sie ist immer ganz fürsorglich mit den kleinen Mäusen, reicht zB die Sandschaufel oder ermuntert sie beim Rutschen und lobt, gerade so, wie wir das früher auch bei ihr gemacht haben.

Mädchen mit Down-Syndrom auf Klettergerüst

Plötzlich entdeckte sie auf der anderen Seite des Klettergerüsts eine Mutter mit ihrem Kleinkind.
Jolina hangelte sich zu ihr rüber, lächelte die Mutter an und stellte sich förmlich bei ihr vor "Jolina Steil" Wir konnten das alles aus einer gewissen Entfernung beobachten und hören.
Ein bisschen mussten wir in uns rein grinsen wie sie das machte. Eigentlich richtig toll. Eigentlich.

Jetzt spricht Jolina recht undeutlich und es erwartet wohl auch keiner, dass sie sich mit Vor- und Nachname vorstellt. Bond, James Bond.....

Die Mutter schaute sie mit leichtem Entsetzen an und man merkte direkt wie unwohl sie sich fühlte. Ein Kind mit Behinderung in ihrer Nähe und dann sprach es auch noch mit ihr.

Dass Jolina nicht in ihre perfekt gestylte Welt passte merkte man sofort, sie und das kleine Mädchen sahen weniger nach Spielplatz aus als nach  Abend im noblen Restaurant.

Ich war kurz versucht hin zu gehen und wie immer als kleines Echo Jolina zu übersetzen. Das habe ich mir schon richtig angewöhnt, schlimm. Selbst wenn ich mich mit anderen unterhalte und Jolina mich unterbricht, dann übersetze ich was sie gesagt hat. Ja, einmal vor den Kopf klatschen, ich merke immer wie daneben ich bin und dieses Mal dachte ich "Nein! Sie ist 11 und außerdem kann man ja wohl kapieren, dass sie ihren Namen sagt!"

Mädchen mit Down-Syndrom auf Rutsche

Die andere Mutter schaute Jolina mit einer Mischung aus irritiert und angeekelt an und meinte "Ich verstehe dich nicht"

Jolina ist ja ausdauernd und geduldig und wiederholte "Jolina Steil"

Das ist etwas, das ist so typisch Jolina und ich höre es auch von anderen Eltern von Kindern mit Down-Syndrom.
Ich verstehe Jolina auch manchmal nicht, wenn ich dann nachfrage, dann sagt sie 5 mal diesen unverständlichen Kauderwelsch hintereinander, kann aber dann keine Alternative einsetzen. Sie wollte mal die DVD Schneewittchen schauen, erst nach Tagen bekam ich raus, was sie da immer sagte. Und wenn ich sie nicht verstehe, wird Jolina bockig und sagt gar nichts mehr.

Klar, sie hätte sagen können "Mein Name ist..." oder "Ich heiße....", aber Jolina ist nun mal ein Kind mit Behinderung und das ist eben eines der Dinge warum sie auch einen Ausweis hat in dem es steht, dass sie behindert ist und nicht nur, dass wir damit kostenlos Bahn fahren können.

Nach dem 2. "Jolina Steil" sagte diese Mutter wieder "Ich verstehe dich nicht!" und drückte ihr Kind noch fester an sich, als würde vor ihr ein bedrohliches Monster stehen, das statt "Jolina Steil", "ich fresse jetzt dein Kind!" sagt.

Nachdem sie merkte, dass Jolina wohl nicht bereit war aufzugeben und zur Not ein drittes mal "Jolina Steil" sagen würde riss sie fast panisch ihr Kind vom Klettergerüst und eilte an die ganz gegenüberliegende Seite des Platzes um sich in Sicherheit zu bringen.

Man merkte wie wichtig ihr war, dass man merkte, dass das behinderte Kind da auf dem Klettergerüst, absolut nichts mit ihr zu tun hatte.

Mädchen mit Down-Syndrom auf Rutsche

Jolina wollte direkt hinterher laufen, sie ist wie gesagt ausdauernd.
Ich rief sie zu mir und sagte ihr zum einen würde sie doch wissen, dass sie Abstand halten müsse wegen des Virus und sie meinte sofort "Oh ja, stimmt" und dann sagte ich ihr die Wahrheit, dass diese Frau nichts mit ihr zu tun haben will und sie einfach bitte nicht mehr zu ihr und ihrem Kind gehen soll.

Ich habe diese Szene beobachtet und es tat mir so weh, diese Blicke voller Ekel, als wäre mein Kind ein widerliches Insekt.
Ich habe es still ausgehalten und meinem Kind auch die Lektion beigebracht, dass es Menschen gibt, die nicht damit klar kommen, wenn jemand "anders" ist.

Als ich dann in einer Instagramstory mein Leid klagte, wie sehr es mein Herz zerrissen hat, diese Blicke musste ich mir noch anhören ich müsse Verständnis haben, ich sein nicht tolerant genug und es sei ja nicht böse gemeint gewesen und ich sei empfindlich.

Ja, ich kenne die sozialen Medien seit über 10 Jahren und wie ungefiltert und unsensibel dort Meinungen ungefragt geschrieben werden.

Ich bin mir sicher, dass genau diese Mütter, die mir sagten, dass ich Verständnis haben müsste genau so gehandelt hätten wie diese Mutter auf dem Spielplatz. Deren Profil ist auch auf Perfektion gebürstet, dabei ist das doch alles Fassade, eine Inszenierung, als wären Äußerlichkeiten wichtig im Leben. Funfakt, sie sind es nicht!

Ich sage immer, dass Inklusion keine Einbahnstraße ist und wir nahmen direkt nach Jolinas Geburt unser Umfeld an die Hand, weil wir genau diese Situation kannten, wie unsicher man ist.
Doch es gibt auch eine Grenze wo ich mehr Mutter bin als Inkluencer, oder Aufklärer.

Es war bei weitem nicht so schlimm wie damals vor 5 Jahren als Jolina bespuckt wurde, doch manchmal sind Blicke schlimm genug und ich kann Ekel von Unsicherheit unterscheiden.

Ich glaube es war weniger diese eine Frau mit Abneigung gegen Jolina (man kann nicht jeden mögen), es war dieser Blick in Jolinas Zukunft. Sie wird es immer schwerer haben, die Menschen werden immer zuerst das Down-Syndrom sehen, Jolina wird ganz oft in Schubladen gesteckt werden, bevor sie überhaupt die Chance hat zu zeigen wer sie wirklich ist.

Was wird sein, wenn sie Menschen begegnet, die nicht nur angewidert sind, sondern ihr etwas tun, weil sie denken Menschen wie Jolina sollen nicht dort sein, wo sie sind, weil sie ihnen Unbehagen bereiten und sie Menschen mit Behinderung als minderwertig ansehen?

Du siehst, es ist nicht einfach dieser eine Blick der mich getroffen hat, es war viel mehr.

Ich bin sonst ziemlich hart im nehmen und mir dann zu schreiben ich sei empfindlich finde ich unsensibel.

Mädchen mit Down-Syndrom auf Klettergerüst

Der Spielplatz blieb für mich den Rest des Urlaubs ein Ort der mir immer wieder diese Begegnung in Erinnerung rief, obwohl Jolina kurz später ein Mädchen traf und ganz lange mit ihr spielte und immer von ihrer neuen Freundin erzählte und hoffte das Mädchen würde immer auf dem Spielplatz auf sie warten. Leider haben wir ihre "Freundin" nicht mehr getroffen, aber die andere Mutter auch nicht mehr.

So ist das, schöne und weniger schöne Momente liegen ganz dicht beieinander und doch machen sie was mit uns.
Nachdem Jolina mir von ihrer "Freundin" erzählte, weil ich da schon nicht mehr auf dem Spielplatz war, fragte ich sofort meinen Mann, ob die Eltern des Mädchens auch nichts dagegen hatten, dass Jolina mit ihr spielte.

Ich dachte, wenn ich einen Monat danach darüber schreibe hätte ich es besser verdaut, doch der Kloß im Hals ist genau so wieder da, als wäre es vor  Stunden passiert.

Auch das ist Leben mit einem Kind mit Behinderung und ich glaube wer nicht in meinen Schuhen läuft versteht es auch nicht und denkt ich sei zu empfindlich.