Freitag, 23. Oktober 2015

Gastautorin Anna: Auf der Suche nach Inklusion

Auf der Suche nach Inklusion


 Ich möchte euch einen kleinen Ausschnitt aus dem Leben eines 7-Jährigen zeigen, vielleicht habt ihr Lust und Kraft, einmal genauer hinzuschauen auf die (nicht) gelebte Inklusion in Deutschlands (Grund-)Schulen.

 Ich beginne im Sommer 2013, mein Sohn war damals 5 Jahre alt und ein sogenanntes Integrationskind mit Verdacht auf eine Störung aus dem Autismusspektrum. Wir lebten in Berlin und dort wird erstmal grundsätzlich jedes Kind eingeschult, welches im Einschulungsjahr 6 Jahre alt wird. Mein Sohn hat am 18. Dezember Geburtstag, also wurde er „eingezogen“. 



Mir war bei dem Gedanken daran eher mulmig. Aufgrund seiner Schwierigkeiten mit der Grob- und Feinmotorik, der sehr geringen Konzentrationsspanne und vor allem massiven Schwierigkeiten im sozial-emotionalen Bereich erschien er mir so gar nicht schulreif. Also beantragte ich eine Rückstellung, welche uns auch gewährt wurde. Doch fast zeitgleich „verlor“ sich der Autismus-Verdacht, sowohl das Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) als auch die (Integrations-)Erzieher waren sich einig, dass mein Sohn mit den anderen Vorschülern mithalten könne und eingeschult werden sollte. Nun ja, da ist man als Mutter schnell vertröstet und geschmeichelt. Also habe ich den Fehler gemacht, die Rückstellung aufzuheben. 

Und so wurde J. Im August 2013 in einer Regelschule entgegen meines ausdrücklichen Wunsches OHNE Schulbegleiter eingeschult (oder Integrationshelfer wie es mancherorts heißt).  
Auch wollte die Klassenlehrerin mit mir nicht im Vorfeld sprechen, dies täte sie immer erst nach Schulbeginn. Das tat sie dann auch: An Tag 3 kam der Anruf in welchem mir knallhart mitgeteilt wurde, der Junge sei nicht schulfähig, ich müsse ihn aus der Schule nehmen und wieder in den Kindergarten bringen. 

Wir haben es bis an die Spitze der Behörden getragen, aber in Deutschland gilt: Von der Schule zurück – das geht nicht! Also bekamen mein Kind „Aufschub“ bis nach den Herbstferien, um sich anzupassen. 

Das tat er nicht. Im Gegenteil: schnell hatte er heraus, welches Verhalten zu einem Anruf zu Hause führte und ich ihn abholen musste. Soviel zur „verlässlichen“ Halbtagsschule. 
Mit Hilfe des SPZs bekamen wir für nach den Herbstferien einen von nur 7 Plätzen in einer „temporären Lerngruppe“, welche an eine Grundschule angegliedert ist. Hier werden die Kinder (allesamt mit ihrem zu tragenden „Päckchen“) in einem Extra-Haus auf dem Schulgelände von einer Lehrkraft und 2,5 Erzieherinnen betreut und individuell unterrichtet. 

Nach anfänglicher großer Euphorie gab man leider auch dort auf. J. war mit seiner mangelnden Eigenmotivation und der Verweigerung in Anforderungssituationen bis hin zu schweren Wutausbrüchen nicht länger tragbar. 

Nach einer Suspendierung am letzten Tag vor den Weihnachtsferien wurde zu Jahresbeginn in soweit zurückgerudert, dass das Kind bin zum 01.04. dort hingehen könne, aber nicht unterrichtet würde. Man könnte es auch böse „Verwahren“ nennen. Als Lösung wurde mir ein Psychiatrieaufenthalt empfohlen..... 
Ich habe mich stattdessen für einen Bundeslandwechsel entschieden! 

Und so landeten wir nach 3 Jahren Abwesenheit wieder in Hannover. 

 Hier gibt es noch zwei sogenannte große „Förderschulen“ mit jeweils an die 200 Schüler. Bereits von Berlin aus nahm ich Kontakt zu einer der beiden auf und fuhr her um sie mir anzusehen. Direkt nach den Osterferien sollte J. dort in die erste Klasse gehen. Bei einem Elterngespräch einen Tag nach dem Umzug stellte sich allerdings heraus, dass dies gar nicht umzusetzen sei, da in Niedersachsen das Einschulungsalter höher angesetzt ist. Das bedeutete für uns: etwas mehr als 5 Monate ohne Fremdbetreuung. Mit Säugling im Haus. Alleinerziehend. Mit einem Sohn, der bei 2 Stunden ohne „Auslauf“ die Wände hochgeht. Na prost Mahlzeit! 

Ich bekenne mich schuldig: Ich bin eine Löwenmutter! Ich glaube das ist Voraussetzung um ein besonderes Kind vom Schicksal zugewiesen zu bekommen. Also hieß es weiterkämpfen, die Zeit nutzen! 

Ich wühlte mich durch alle möglichen Institutionen und so kam es ziemlich schnell zu einer Zusammenarbeit mit der Heilpädagogischen Ambulanz (HPA). Ein Team aus männlichem Heilpädagogen und weiblicher Sozialpädagogin begleitet uns seitdem. Dies beinhaltet Elterngespräche, Begleitung bei Hilfeplangesprächen u.ä. und ganz wichtig: (Er-)leben für das Kind. Ohne Mama aber im „echten“ Leben. Therapie im Alltag. 
Ohne diese Menschen wäre es um einiges härter gewesen! 

Und dann erfuhr ich von einer „Schultagesgruppe“ mit dem Schwerpunkt sozial-emotionale Störungen für die ersten 2 Schuljahre. Sie gehört zu der 2. Förderschule in Hannover und die 9 verfügbaren Plätze pro Schuljahr sind sehr begehrt. Hier werden die Kinder vormittags beschult und am Nachmittag in derselben Gruppe gefördert. Nach den 2 Jahren wird entschieden, ob das Kind eine Chance in einer Regelschule hat oder auf der Förderschule bleibt. Als mich die Zusage per Telefon beim Klamotten-Shoppen erreichte, musste ich mich setzen und weinen, so weh tat der fallende Stein. Mit HPA, Ergo- und Psychotherapie bekamen wir den Sommer doch ganz gut hinter uns und J. wurde eingeschult. Zum 2. Mal. In seine 3. Schule. 

Ich hatte Angst! 

Große Angst, dass er ein drittes Mal scheitert. Oder besser gesagt das System an ihm scheitert. Denn wie könnte man einen 7Jährigen in diesem Belang schuldig sprechen? Wieder bettelte ich um einen Schulbegleiter, um die Startbedingungen so positiv wie möglich zu gestalten. Zu teuer hieß es. „Wir warten erstmal ab.“ 

 Es wäre so schön und ich so glücklich wenn ich euch jetzt ein Happy-End bieten könnte. Doch diese Geschichte beschreibt das richtige Leben und somit geht es weiter: 
Anfang dieses Jahres entschied ich mich dafür, meinen Sohn auf eine Reha-Kur (Psychosomatik) zu begleiten. Um ihn einmal ganzheitlich diagnostizieren zu lassen (denn eine wirkliche Diagnose gab es nach Wegfall des Aspergerverdachtes nicht mehr) und seine sowie die allgemeinen Möglichkeiten zu sondieren. Diese 5 Wochen haben alles schlimmer gemacht. Ich blieb bei den Therapien außen vor bzw. wurden mir statt Hilfestellungen Vorhaltungen gemacht und der Junge wurde buchstäblich einfach laufen gelassen. Was zur Folge hatte, dass er, wieder zurück in seiner Schule, seine sowieso schon latent vorhandenen Weglauftenzenden auf die Spitze trieb: Gemeinsam mit einem Klassenkameraden fuhr er einen Tag mit den öffentlichen Verkehrsmitteln quer durch die Großstadt. 6 Stunden wurden sie polizeilich gesucht, bis sie schließlich von allein zur Gruppe zurückkamen. Nassgeregnet (in Hausschuhen) und hungrig. Muss ich erwähnen, dass niemand sich verpflichtet fühlte, einzugreifen? Auch nicht die Bus- und Bahnfahrer, denen eine Suchmeldung vorlag. Nein, denn ich schweife ab… 

Fazit des kleinen Ausfluges: Klassenkonferenz, 1,5 Wochen Suspendierung und wieder der Hinweis: J. ist so nicht beschulbar! Sollte der Vorfall sich wiederholen, muss er die Schule verlassen. 
Da war es wieder: Das Damokles-Schwert fiel rasant! 

Ich fragte nach. Beim Direktor, bei den Pädagogen, beim Jugendamt, bei der Psychologin und den Therapeuten: Was bedeutet das? Was macht man mit einem Kind von 7 Jahren, welches zwar schulpflichtig ist, aber selbst die niedrigste Form von Schule sich nicht in der Lage fühlt, es zu beschulen? Ich sprach es direkt aus: „Heimunterricht unter Ausschluss von sozialen Einflüssen“ oder „geschlossene Einrichtung“? 
NIEMAND hatte den Mumm dieses einer verzweifelten und stinksauren Mutter zu bestätigen, aber ihr Schweigen war Antwort genug. 

Da mir in der Reha ans Herz gelegt wurde, eine ausführliche AD(H)S-Prüfung vornehmen zu lassen, nutzte ich unsere gemeinsame schulfreie Zeit und trat es an. 

 Ich kürze ab: Jackpot! Plus eine auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS). Plus eine Lese- Rechtschreibschwäche (LRS) 
Ok, kurze Schockstarre inklusive dem Gedanken „Ich glaube doch gar nicht an ADHS!“… 

Dann hieß es wie immer: Aufstehen, Krone richten, lächeln und in den nächsten Kampf ziehen. 
 Das bedeutete diesmal konkret: Einen Platz in der Tagesklinik der hiesigen Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) ergattern, um 1. gut begleitet zu testen, ob in unserem Fall eine medikamentöse Therapie hilfreich wäre und 2. in relativ geschütztem Rahmen und mit dichter Fachkraftstärke zu ergründen, was getan werden muss, um eine Beschulung aufrecht zu erhalten. 

 7 Wochen und mehrere Gespräche später kann ich euch noch keine Prognose geben. 
Das zweite Medikament scheint anzuschlagen. J. läuft nicht mehr weg, aber es fällt ihm unglaublich schwer, teilzunehmen. Auf der einen Seite wünscht er sich nichts mehr als dazuzugehören, auf der anderen Seite weiß er einfach nicht, wie er das angehen soll. Er ist unglaublich schnell überreizt und auf 180. Gruppensituationen, Anforderungen, Strukturänderung kann er kaum aushalten. Aber er bleibt jetzt auch in Ausnahmesituationen greifbar, wo er vorher schlichtweg „ausgetillt“ ist und kreischend, tobend mit Fingern in den Ohren umhergerannt ist. 
Wenn in zwei Wochen die Ferien zu Ende sind, wird J. von der KJP-Lehrerin begleitet zurück an seine Schule geführt. Ganz ganz kleinschrittig. Denn was auf keinen Fall passieren darf, da sind sich ausnahmsweise mal alle einig, ist ein weiterer Rausschmiss. Und weil das sogar das Jugendamt so sieht, wird es endlich einen Schulbegleiter geben. 
Das wurde mir in die Hand versprochen! 

Natürlich nicht sofort. Auch wenn das das Optimum wäre. Denn für die Beantragung eines Solchen bedarf es einiger Tests und Stellungnahmen, für die das Kind noch etwas stabiler werden sollte. Und selbst wenn der Antrag bewillig wurde, sitzt noch lange kein Begleiter mit in der Klasse. Es ist ein schlecht bezahlter, oftmals undankbarer Job, mit hohem Wechsel an Personal, welches in den seltensten Fällen vom Fach ist. Darum gibt es schlichtweg zu wenig Schulbegleiter. 
6 Monate soll ich einkalkulieren. Und auch bei diesem Problem lässt uns das Jugendamt nicht im Regen stehen: Uns wurde zugesagt, dass die Stunden der HPA für diese Überbrückungsphase erhöht werden, so dass J. zur Schule gehen kann. 2 Stunden täglich, begleitet von seinem Team der HPA, bis ein Schulbegleiter gefunden ist. 

Das ist nicht viel, und mir ist es nicht wohl bei dem Gedanken, dass ich ihn wieder sehr viel allein zu Hause betreuen muss. Denn ehrlich gesagt schwinden mir die Kräfte. Kaum ist die kleine Schwester in die Krippe eingewöhnt, könnte ich mal etwas durchatmen, mich wiederfinden in all dem Mama- und Betreuerinnen-Dasein, ist der Große wieder im Haus. Von arbeiten gehen möchte ich gar nicht träumen derzeit. 

 Aber es ist ein Weg nach vorn! 
Und nur dorthin will ich blicken. 

 Denn wie heisst es so schön: „Man muss mit den Karten spielen, die einem zugeteilt werden!“ 

 Und ich bleibe weiter auf der Suche nach Inklusion…


Danke Anna für diesen Einblick in Euer Leben.
Anna hat sich durch diesen Gastbeitrag entschlossen auch einen Blog zu eröffnen, so könnt ihr auch weiter die Suche nach Inklusion verfolgen.
Den Blog findet ihr unter: a special kind

6 Kommentare:

  1. Puhh..da bleibt einem der Atem weg..ich kann Dir, liebe Anna, nur weiterhin so viel Kraft wünschen und dass ein/eine tolle Schulbegleitung gefunden wird.ganz liebe Grüße, Astrid

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  2. Danke, dass du uns teilhaben lässt. Ich hoffe sehr, dass sich eure Situation irgendwann entspannt und es mehr kleine Lichtblicke gibt.

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    1. Danke Sabine! Die Hoffnung darauf lässt mich jeden Tag auf's Neue in den Kampf ziehen

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  3. Liebe Anna, vielen Dank für Deinen Mut, Deine Geschichte in Worte zu fassen. Es ist furchtbar, dass die Schulen und Behörden in Deutschland immer noch nicht mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen umgehen können. Ich wünsche Dir für die Zukunft mehr Unterstützung und ganz viel Kraft.
    Alles Liebe, Janina

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    1. Oh danke Janina! Ich habe lange überlegt ob ich es in die Welt hinaustrage, aber das MUSS man einfach erfahren!

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