Mittwoch, 26. November 2014

Du bist nicht alleine! Mein offener Brief an alle Eltern die gerade erfahren haben das ihr Kind behindert sein wird

Liebe Mama, lieber Papa,
und auch
liebe Omas, Opas und Geschwister,

Ihr seid nicht alleine.
Auch ich war mal eine von Euch.

Bei meiner ersten Schwangerschaft, als ich noch nicht Mutter war und noch voller Ideen wie es wohl sein könnte oder müsste, habe ich keinen Versuch unterlassen fest und sicher zu stellen, das mein in mir wachsendes Kind auch wirklich so ist wie ich mir das so ausmale.

Nur Kinder kann man nicht im Katalog bestellen. Nun ja, das gibt es auch schon, aber was nehmen wir uns damit? Ein großes Stück Vielfalt und Individualität.

Aber was ist wenn das Kind plötzlich nicht so ist wie "bestellt"? Ist es dann nicht mehr unser Kind? Ein kleines Wunder das die Natur da so einfach aus unseren Genen zusammen mixt? Doch, genau das ist es, jedes Kind ist das.

Mir würde etwas fehlen wäre meine Jolina mit ihrem "überschüssigen" 21ten Chromosom nicht da.

Natürlich könnte es manchmal einfacher sein, doch das könnte es immer. Ein Leben ohne Kinder ist einfacher, aber manchmal auch einfach nur langweilig.

Liebe Eltern, wenn man Euch heute sagt Euer Kind das da gerade wächst (nicht entsteht, es ist ja schon da) z.B. so wie Jolina das Down Syndrom hat, dann lasst Euch von Ärzten nichts erzählen,
lasst Euch nichts erzählen von Kindern die nichts lernen werden, die Euch immer nur Arbeit machen werden, die immer glücklich sind aber auch nie ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten können.

Schaut einfach in die Gesichter von Eltern deren Kinder so gar nicht in "Bestelllisten"  zu finden sind.
Seht ihr da unendliche Traurigkeit? Nein! Denn diese Trauer vergeht.
Die Trauer und Wut das man etwas bekommt das man so sicher nicht bestellt hat und jetzt gibt es nicht mal ein Umtauschrecht.

Natürlich war ich traurig und ich dachte ich könne mein Kind nie wirklich lieben und was würden die Leute sagen und die Zukunft wäre sicher nur noch grau in grau und und und.....
Diese Traurigkeit wird Euch keiner nehmen, die gehört dazu, aber es wird vorbei gehen und ihr werdet lachen und glücklich sein und es ist Euer Kind.

Bei uns ist das Down Syndrom nicht das Große und Ganze das Jolina aus macht, es ist eine Begleiterscheinung die manchmal schon etwas nervig ist aber wenn ich sie so ansehe, dann ist ganz viel das sie wirklich ausmacht nicht dieses winzig kleine Chromosom das zu viel ist sondern der Rest ihrer Erbanlagen.

Jolina ist ein kleiner Minime - ich sehe so viel von mir in ihr, auch Fähigkeiten die zB Louisa die in vielem nach ihrem Vater kommt nicht hat.
Jolina hat die Gabe Dinge zu sehen und zu speichern die andere gar nicht wahr nehmen. Sie weiß genau wo was in der Küche liegt oder hin gehört, auch im Ferienhaus wo ja alles anders ist als normal geht sie der Großen zur Hand die nach 10 Tagen immer noch nicht weiß in welcher Schublade die Löffel liegen.

Natürlich sind das keine Fähigkeiten die später in der Schullaufbahn gefordert werden und die unsere heutige Gesellschaft als erstrebenswert ansieht, doch mir sind solche Leute tausend mal lieber als welche die es nicht schaffen ihre Gedanken und Eindrücke zu sortieren, die zwar geistig voll auf der Höhe sind, aber menschliche Interaktion nie gelernt haben oder auch nicht wollen.
Ich weiß wovon ich spreche, ich habe viele Jahre Bank-Azubis ausgebildet und auch einiges erlebt.

Gerade jetzt wo endlich die Sprache bei Jolina so richtig in Gang kommt erkenne ich den wahren Charakter meines Kindes immer mehr und der hat mit dem ewig grinsenden Behinderten, der eh nix rafft so gar nichts zu tun. Sie hat einen feinen Sinn für Humor mit Ansätzen zur Ironie (sorry das hat sie wohl von mir) sie weiß genau was sie will und versucht das auch mit allen Mitteln durchzusetzen (und Alle Mittel sind nicht nur "sooo lieb" oder freundlich sondern teilweise auch ein klein bisschen hinterlistig und vollkommen "normal" - an dieser Stelle muss ich leider die Idee vom immer freundlichen Menschen mit Down Syndrom kippen, die sind so unterschiedlich wie alle anderen auch, nur haben sie wohl weniger vorgefasste Meinungen und Schubladendenken und das lässt sie uns so sehen)

Liebe Eltern, ich weiß das über 90% aller Kinder mit Down Syndrom ihre Geburt nicht erleben, und dies aus Unwissenheit und Angst.
Lasst Euch keine Angst machen und was später einmal kommt, das können wir alle nicht wissen.

Wie konnte ich bei meinem 2. Kind so gelassen sein, obwohl es das Down Syndrom hat?
1. ich war schon Mutter und wusste das man sein Kind egal wie es ist und was es tut immer abgöttisch lieben wird (obwohl ich dann doch daran zweifelte als sie da war).
2. eine gute Freundin sagte mir: "Was hilft es ein gesundes, perfektes Kind zur Welt zu bringen und 3 Wochen später fällt es vom Wickeltisch, oder wird mit 2 Jahren vom Auto angefahren oder bekommt später eine schlimme Krankheit?"

Diesen Satz habe ich nicht vergessen, er birgt so viel Wahrheit und einfach die Tatsache das es keine Garantie gibt.

Liebe Eltern,
ich wünsche mir, das ihr bevor ihr Euch gegen Euer Kind entscheidet die Kraft habt mit Eltern zu sprechen die genau so ein Kind haben und Euch zeigen, das es gar nicht viel Kraft braucht, oder die Fähigkeit sich auf zu opfern, das einzige was es braucht ist das was man eh schon in sich trägt, die natürliche Liebe von Mutter oder Vater zu ihrem Kind.

Eure Martina





PS:
Ich werde oft gefragt was mich zu einem bestimmten BlogPost inspiriert hat, daher schreibe ich es gleich dazu.
Es sind meist viele Dinge und ein einziges Bild oder Wort lösen dann einen Post wie diesen aus.
Durch Jolina bin ich in eine ganz andere Erfahrensebene gerutscht, zum einen öffnen sich Menschen aus dem Umfeld plötzlich und erzählen von sich, Dinge die sie anderen nie erzählen würden. Das in ihrer Familie auch ein Kind mit Down Syndrom war, oder ähnliche Geschichten. In dem Moment merkt man das man ganz und gar nicht exotisch oder so viel anders ist.
Zusätzlich habe ich viele Kinder kennengelernt die eigentlich so wie bestellt geliefert werden sollten, doch dann gab es plötzlich "Eilzustellungen" Kinder die jünger sind in ihrer Entwicklung als die Kinder die (und jetzt sage ich das böse Wort) abgetrieben werden weil sie ein Chromosom zu viel haben, werden mit jeder erdenklichen Mühe der Medizin durchgebracht, wissend das schwere Behinderungen die Folge sind und auch die Eltern kämpfen und hoffen um ihr Kind, was ja auch richtig ist - doch genau so sollten Eltern kämpfen und hoffen wenn sie erfahren das das Kind Trisomie 21 hat.

Auf die Idee dieses Post bin ich gekommen durch betrachten einer Seite mit Bildern von Familien mit Kindern der unterschiedlichsten Behinderungen, darunter sehr viele mit später erworbenen, also nicht genetisch bedingt wie bei unserer Tochter. Und alle diese Menschen sehen  glücklich aus, das schafft kein Photoshop, das kommt von innen.

Ich wehre mich einfach gegen den Gedanken das man nur mit Perfektion glücklich sein kann und ich möchte es am liebsten jedem ins Gesicht schreien.
Manchmal gehe ich durch die Straßen und überlege wo sie gerade sind die vielen, vielen Eltern die 90% der Menschen mit Down Syndrom als zu unperfekt für ihr perfektes Leben ansahen.

Ich verurteilen keinen für die Angst, nein, aber ich verurteile das System das Eltern versucht zu suggerieren das sie der Gesellschaft eine solche "Bürde" nicht auferlegen dürfen.
Ich könnte mir Jolina später durchaus in der Altenpflege vorstellen und solche Menschen werden wir brauchen, die "Perfekten" werden sich doch lieber auch mit perfekten Menschen umgeben als mit Alten und Kranken, schon was zum nachdenken, oder?

7 Kommentare:

  1. Liebe Martina,

    was für ein wundervoller Post, auch wenn ich hier gerade etwas mit den Tränen kämpfe ... Du hast wirklich soooo recht! Bei unserem ersten Kind habe ich keine Untersuchung ausgelassen, genau wie Du. Für mich war es damals unvorstellbar, dass man ein "behindertes Kind" austrägt. Wir hatten "Glück" ... unsere beiden sind gesund und sind toll so wie sie sind. Aber erst durch Eure Blogs über Kinder mit DownSyndrom ist mir klar geworden, dass diese kleinen Mäuselchen mit dem kleinen Extra genauso ein Recht haben, ihr Leben zu leben und das ihre Eltern nicht leiden, sondern glücklich sind!!! Also auch wenn es mich eigentlich so gar nicht betrifft, ich finde diese Aufklärungsarbeit die Du hier leistest wirklich wundervoll und es berührt mich zutiefst. Wahre Worte und ich wünschte, Du hättest gerade einen Megaphone in der Hand und würdest es einfach in die Welt hinausrufen!!!

    DANKE und ich drück Dich mal ganz feste
    Sandy

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    1. Ich drücke dich ganz feste zurück und mein Megaphon ist dieser Blog, du hast mich ja auch gehört ;-)
      Deutschland trägt immer noch schwer an seiner Geschichte und erst langsam zeigen die Menschen das ihre "besonderen" Kinder dazu gehören nur ist es ein Wettlauf gegen die Zeit und den Wahn der Perfektion Und wenn Du vielleicht irgendwo ein kleines Mädchen mit Down Syndrom auf der Straße siehst, denkst du vielleicht an Jolina und unseren Blog und musst in dich rein grinsen und an eine unserer lustigen geschichten denken.
      LG
      Martina

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  2. Liebe Martina, ich lese hier schon länger still mit, denn mich betrifft es in einer ganz eigene Art: Ich bekam durch meine komplette Schwangerschaft von einer Ärztin, die nach dieser Nackenfalltungschallung behauptet hat, mein Kind sei " krank! Und das wollen Sie doch nicht etwa bekommen? Es wird keine 20 SSW alt werden, wollen Sie etwa darauf warten?!" Mit jeder Untersuchung, in die sich mich, überfordert wie ich war, reinquatschte, stellte sich heraus, DIESE Krankheit hat sie nicht (alles hat sie mir gesagt, angefangen mit dem Down-Syndrom, dann das Turner-Syndrom, das durch Analyse dann ausgeschlossen werden konnte, dann hätte es einen Herzfehler, oder kein Gehirn, ach eines war schlimmer als das andere...). Ich habe es trotzdem geschafft, habe mein Kind behalten, habe "auf mich" gehört, nicht auf die Stimmen der Ärztin oder grausamer Verwandtschaft. Heute ist mein Kind Teenager, ohne Auffälligkeiten, "gesund", oder wie man es auch immer ausdrücken soll. Ich habe es geliebt von dem Moment an, an dem ich wusste, dass es in mir wächst - egal, was es gehabt hätte. Trotzdem habe ich die komplette Schwangerschaft getrauert, Angst gehabt, Glücksmomente, diese wohlige Schwangersein hatte ich nicht... Und wenn ich heute meinen Teenager ansehe, dann frage ich mich oft: Wieviele Kinder hat diese Ärztin auf dem Gewissen? Wievielen Eltern hat sie - aufgrund von VERMUTUNGEN - zur Abtreibung geraten?
    Ich bin also Betroffene und auch wieder nicht! Ich hatte damals noch kein internet, und ich bewundere und danke Euch, die Ihr Euer Leben in Stücken mit uns teilt - und somit sicher vielen ein kleines bisschen Angst nehmen könnt!
    Liebe Grüsse Jonna

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    1. Danke für deine Zeilen, genau das ist es was viele verunsichert, panische Ärzte. Wobei, das sind auch Menschen, genau wie wir und auch mit Ängsten. Es gibt Eltern die Ärzte verklagten weil sie ihnen ihr Kind nicht "erspart" haben wobei ich den Ärzten damit nicht Recht geben möchte. Die Waage zu finden zwischen wie viel sage ich und wie viel Vermutung behalte ich für mich ist schwierig und sollte auch ein Teil der Ausbildung sein. Ich bin froh das du auf dein Herz gehört hast, das sollten wir eh viel öfter tun.
      LG Martina

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  3. Einfach nur Danke. Du hast mir aus der Seele gespre

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  4. Einfach nur Danke. Du hast mir aus der Seele gesprochen.

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  5. Ich wünschte, es würden mehr Menschen so offen und ehrlich mit dem Thema umgehen und uns Unwissenden, Verunsicherten ein wenig von der Angst nehmen, die wegen fehlender Erfahrung so leicht geschürt werden kann. Wir müssen nicht alle perfekt sein, oder das, was die Gesellschaft als perfekt ansieht. Jedenfalls Hut ab vor einer solchen Mama, du kannst wirklich stolz auf dich sein ��

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